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Die Bruderhassliebe
Eine neue opulente Ausgabe der Briefe, die der Maler Vincent van Gogh an seinen Bruder Theo schrieb
Vincent van Gogh ist das älteste von sechs Geschwistern. Innig ist sein Verhältnis nur zu Theo, die drei Schwestern und der jüngste Bruder stehen ihm fern. 632 Briefe an Theo sind schon in der ersten Ausgabe der »Brieven aan zijn broeder« enthalten, die 1914 von Theos Witwe Johanna van Gogh-Bonger herausgegeben wurden.
Bereits 1879 im Bergbaugebiet der Borinage beginnt Vincent einige Briefe auf Französisch zu schreiben, und nachdem er im Februar 1888 von Paris nach Arles zieht, sind sämtliche Briefe an Theo auf Französisch - bis zu seinem letzten, den er am 27. Juli 1890 mit sich trug, als er in einem Weizenfeld bei Auvers auf sich schoss. Zwei Tage später erlag er seinen Verletzungen.
Der Kunsthistoriker Julius Meier-Graefe antwortet auf die Frage, wer Theo van Gogh eigentlich gewesen sei: »Theo war sein Bruder, eine Realität und eine mystische Person. Statt Vincent und Theo könnte man auch setzen Vincent und Welt oder Vincent und Gott.« Liest man die mehr als zweieinhalbtausend Seiten Briefe Vincents an Theo, dann klingt das plausibel: Der Bruder ist für ihn ein Repräsentant »des anderen«, er ist das Du zum Ich, das Alter Ego im Rahmen des Bürgerlichen. Kunsthändler statt Künstler. Also auch Feind, einer von der anderen Seite. Repäsentant der Logik: Erfolg als Maler hat, wer seine Bilder verkauft.
Mit Büchern verhält es sich ähnlich. Dass Vincent van Gogh ein ekstatisches Verhältnis zum Wort besaß, seine Briefe an Theo darum intensive Literatur sind, wissen wir längst. Darum wurden sie bereits zweimal auf Deutsch vollständig herausgegeben. Zum ersten Mal 1928 in der Übersetzung von Leo Klein-Diepold (die Briefe aus dem Holländischen) und von Carl Einstein (die Briefe aus dem Französischen), die auch der verfügbaren Insel-Ausgabe zugrunde liegen. Die sechsbändige Ausgabe des Lamuv-Verlages basiert auf der sehr guten Übersetzung von Eva Schumann.
Nun also gibt der Verlag C.H. Beck diese Briefe in einer prachtvoll ausgestatteten Kassette in der Übersetzung von Marlene Müller-Haas und Susanne Röckel unter Mitarbeit von Andrea Prinz heraus - auf gut tausend Seiten, jedoch nur in einer Auswahl, dafür mit einem ausführlichen biografischen Einleitungsteil, mitsamt 110 Zeichnungen van Goghs, die man nicht Illustrationen nennen sollte.
Legt man alle drei Ausgaben nebeneinander und vergleicht übersetzte Briefpassagen, dann wird deutlich, wie sehr das Sprachverständnis des Übersetzers den Gestus des Geschriebenen prägt. Wir lesen schließlich die Sätze des Übersetzers, nicht die van Goghs. Im ersten Brief Vincents an Theo 1872 aus Den Haag, übersetzt von Leo Klein-Diepold in der Insel-Ausgabe, lesen wir: »Wir haben vergnügte Tage zusammen gehabt und sind zwischen den Regenschauern doch auch mal ausgegangen und haben das eine und andere gesehen.« Bei Eva Schumann heißt es: »Wir haben wunderschöne Tage zusammen gehabt, und zwischendurch sind wir doch noch ein paarmal spazieren gewesen und haben allerlei gesehen.« In der Neuübersetzung der Beck-Ausgabe kann man nun eine weitere Variante finden: »Wir haben schöne Tage miteinander verbracht und zwischen den Tröpfchen doch ziemlich viele Spaziergänge gemacht & das eine und andere gesehen.« Wenn ein harmloser Satz bereits solche Unterschiede im Ausdruck möglich macht, wie dann erst jene Passagen, in denen es um persönlichste Bekenntnisse geht? Manchmal allerdings hat man den Eindruck, Übersetzer wollen vor allem eines: es vermeiden, einer anderen Übersetzung irgendwie ähnlich zu sein. Lieber sucht man ständig nach neuen Übertragungsvarianten - ob das der Sache immer dienlich ist, bleibt offen.
Schnell wird bei der Lektüre klar, dass der sorgsamen und in der Wahl der Materialien alles andere als sparsamen, drei Kilogramm schweren Beck-Ausgabe auch eine solide, wenn auch eher kühl-funktionale Übersetzung zugrunde liegt, die mehr Wert auf Exaktheit als, gemessen vor allem an Carl Einstein, auf expressive Sprachbilder legt. Da wird sich der Leser nach seinen eigenen Vorlieben zwischen den verschiedenen Ausgaben orientieren müssen. Wie auch immer, die Geschichte der ungleichen Brüder Vincent und Theo (der Maler und der Kunsthändler) ist es wert, immer wieder neu erzählt zu werden.
An Versuchen Vincents, aus Theo einen Künstler zu machen, ihn auf seine Seite herüberzuziehen, fehlte es nicht. Theo ist als Vertreter der Familie immer auch Abgesandter einer kalt-rechnenden Welt. Und doch, das so zu sagen, hieße, der Beziehung der beiden Brüder nicht gerecht zu werden. Denn eine ungeheure Intimität schwingt in diesem Gespräch in Briefen mit. Niemand wird Vincent je näher sein als Theo. In dieser alle anderen ausschließenden Liebe zwischen den Brüdern herrscht eine unerhörte Spannung. Manchmal entlädt sie sich. Dann wird aus Annäherung heftige Abstoßung, fast Hass. Sie sind grundverschieden: der vernünftige, zögerliche Theo, dem es an sinnlicher Kraft zur Rebellion mangelt, bewundert Vincent gerade für seine gebärdenreiche Stärke. Und dieser erkennt in Theo einen stillen Dulder am brüchigen Rand des Bürgerlichen.
Woraus resultiert diese besondere Intensität der Beziehung Vincents zu Theo? Zuerst gewiss aus gemeinsamen Anfängen. Denn beide beginnen sehr jung eine Lehre im Kunsthandel und werden später Angestellte bei der renommierten Galerie Goupil. Aber das allein reicht als Erklärung wohl kaum, denn Kunsthändler gibt es in der Familie bereits mehrere, doch Vincent hat kein gutes Verhältnis zu ihnen. Alle seine Beziehungen zur Außenwelt sind letztlich distanziert geblieben. Mit Ausnahme zweier heftiger Annäherungsversuche: an die Hure Sien, mit der er eine Zeit lang aus karitativer Überzeugung zusammenlebt, und an Paul Gauguin, mit dem er den Traum eines »Ateliers des Südens« verwirklichen will. Beide Male endet es desaströs.
Konstant bleibt nur das Verhältnis zu Theo. Immer steht der Bruder zwischen ihm und der Welt. Es bleiben nur die Bilder, sich dieser zu offenbaren. Theo, der ihn alimentiert und dadurch jeden seiner Schritte kontrolliert, hat bei allen finanziellen Ausgaben mitzureden. Er zwingt ihn so aber auch, sich auf das Wesentliche, seine Berufung als Maler, zu konzentrieren.
Antonin Artaud sieht in Theo das konformistische Prinzip am Werk, das Vincents Genie nicht begreifen kann - und spricht vom »Familienvampirismus«, den er nicht abzuschütteln vermochte: »Theo war vielleicht materiell sehr gut zu seinem Bruder, aber das hinderte ihn nicht daran, ihn für delirierend, illuminiert, halluziniert zu halten und danach zu streben, statt ihm in sein Delirium zu folgen, ihn zu beruhigen. Was macht es aus, dass er danach vor Reue starb?« Starb Vincent van Gogh durch eigene Hand, eben weil er keinen bürgerlichen Tod sterben wollte - nicht den Weg gehen konnte, den seine Bilder in Auktionshäusern heute nehmen? Das Anlagepapier der etwas anderen Art? Doch woher kommt die Kraft, die seine Bilder bis heute durchpulst?
Mit seinen Briefen wehrt Vincent van Gogh sich gegen seinen drohenden Untergang mit aller Energie, die er zu entwickeln vermag. Ein Außenseiter, ein Ketzer, der seinen Weg zu Gott geht - ein Franz von Assisi der modernen Malerei. Seit seiner Zeit bei den ausgebeuteten Bergarbeitern der Borinage findet er seinen Gott bei den Elenden, den Missachteten. Mehr noch: in jedem Tier, in jeder Pflanze, schließlich in Licht und Dunkelheit. Dieser Pantheismus, den er malt, gibt noch den profansten Gegenständen ihre Faszination. In ihnen bleibt immer eine Kraft spürbar, die auf Veränderung drängt: hin zum Blühen oder zum Welken.
So entstehen Symbole des Lebens wie des Todes, die ihre irritierende Gegenwärtigkeit bis heute behalten haben. Die brennende Sonne Südfrankreichs weicht dem tiefen Dunkel-Licht des Nordens. Lauter magische Verwandlungsakte, die gleichzeitig von innen wie von außen kommen. Bevor er auf sich schießt und bald darauf an der Wunde stirbt, spricht er zu Theo in einem Brief vom 10. Juli 1890 aus Auvers-sur-Oise von jener Wunde, die er längst mit sich trägt und die auf seinen letzten Bildern unübersehbar geworden ist: »Es sind unermesslich weite Kornfelder unter verdüsterten Himmeln, und ich habe mich nicht gescheut zu versuchen, Traurigkeit, äußerste Einsamkeit auszudrücken.«
»Manch einer hat ein großes Feuer in der Seele«. Van Gogh, Die Briefe, C. H. Beck Verlag, 1065 S., geb., 68 €.
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