Wohnungslosigkeit steigt weiter

Auf Veranstaltung zu Sozialdarwinismus warnen Experten vor sozialer Ausgrenzung

  • Rainer Balcerowiak
  • Lesedauer: 3 Min.
»Obdachlosenhass und Sozialdarwinismus« lautete der Titel einer gemeinsamen Veranstaltung der Berliner Mietergemeinschaft und der Freien Arbeiter Union (FAU) am Freitag in deren Versammlungslokal in der Grüntaler Straße im Wedding.

Anlass war das rigorose Vorgehen des Bezirks Mitte gegen Obdachlose. Am 30. Oktober räumte das Ordnungsamt, begleitet von einem großem Polizei- und Medienaufgebot, einen wilden Zeltplatz im Tiergarten. Die Räumung sei »die konsequente Fortsetzung der stetigen Bemühungen des Bezirkes, die Fehlnutzung des Tiergartens und des öffentlichen Raums in anderen Teilen des Bezirks im Rahmen seiner Möglichkeiten einzudämmen«, hieß es in einer Erklärung des Bezirksamts. Ordnungsamt und Polizei sollen künftig durch intensive Streifengänge sicherstellen, dass sich dort keine Obdachlosen mehr niederlassen.

Als Einpeitscher des rigiden Vorgehens fungierte Bezirksbürgermeister Stephan von Dassel (Grüne), der vor der Räumung erklärt hatte: »Diese Menschen haben hier kein Bleiberecht. Berlin muss sich ehrlich machen und die Abschiebung ernsthaft prüfen.«

Das Vorgehen im Tiergarten sei aber keineswegs ein Einzelfall in Berlin-Mitte, berichtete eine Vertreterin der Berliner Obdachlosenhilfe auf der Diskussionsveranstaltung. Entlang der Spreewege und besonders im Hansaviertel, einem gutbürgerlichen Wohngebiet mit vielen Eigentumswohnungen, mache ein »Bürgerverein« mit Unterstützung des örtlichen SPD-Bundestagsabgeordneten Thomas Isenberg massiv Stimmung gegen Obdachlose und fordere deren Vertreibung ein.

So sei erfolgreich Druck auf einen großen Supermarkt ausgeübt worden, die wöchentliche Ausgabe von Essen, Kleidung und Schlafsäcken auf dem Parkplatz des Geschäfts zu unterbinden. Auch die Kirchengemeinde am Hansaplatz habe der Obdachlosenhilfe die Nutzung ihres Grundstücks mittlerweile untersagt. Polizei und Ordnungsamt unterstützten das Vorgehen durch ständige Platzverweise gegen Obdachlose. Zudem hätten Anwohner die Mitarbeiter der Obdachlosenhilfe »massiv bedroht und beschimpft«.

Für den Journalisten und Buchautoren Lucius Teidelbaum ist all das Ausdruck einer in Deutschland weit verbreiteten »gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit«, die er als Sozialdarwinismus bezeichnet. Trotz der Vielschichtigkeit der Ursachen von Obdachlosigkeit würden diese Menschen als amorphe Gruppe von »Asozialen« und »Schmarotzern« wahrgenommen, die es auszugrenzen gelte.

Neben dieser strukturellen Gewalt gebe es auch unzählige Übergriffe auf Wohnungslose, bis hin zu schweren Körperverletzungen und Tötungsdelikten. Dazu komme eine rassistische Komponente, die sich gezielt gegen marginalisierte Zuwanderer aus Ost- und Südosteuropa richtet (»Zigeuner«). So sei es besonders in ostdeutschen Städten mittlerweile verbreitet, dass Gruppen aus dem NPD- und Pegida-Umfeld gezielt Hilfe ausschließlich für deutsche Obdachlose anböten. Doch insgesamt sei der Abscheu bis hin zum Hass auf Obdachlose »tief in allen Schichten der Bevölkerung verwurzelt«, so Teidelbaum. Dabei spiele auch die Angst vor dem eigenen sozialen Abstieg eine Rolle.

Philipp Mattern von der Berliner Mietergemeinschaft verwies auf einen Aufwärtstrend sowohl bei der Wohnungslosigkeit als auch der Abneigung gegen Betroffene. Die öffentlich sichtbare Obdachlosigkeit sei nur die Spitze des Eisbergs. Berlin sei die »Hauptstadt der Wohnungslosigkeit«, bis zu 40 000 Menschen hätten keine eigenständige Wohnmöglichkeit und seien mehr oder weniger notdürftig untergebracht.

Das »geschützte Segment« für Betroffene sei auf derzeit 1300 Wohnungen geschrumpft. Und solange es in der Stadt kein wirklich ambitioniertes Neubauprogramm gebe, um allen hier lebenden Menschen selbstbestimmtes menschenwürdiges Wohnen zu ermöglichen, werde sich daran auch nichts ändern, so Mattern. Im Gegenteil: Es sei noch mit einer deutlichen Zunahme der Wohnungs- und Obdachlosigkeit zu rechnen.

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