Beispielloses EU-Strafverfahren gegen Polen

Antrag wegen umstrittener Justizreformen kann bis zum Stimmrechtsentzug in Brüssel führen

  • Olaf Standke
  • Lesedauer: 2 Min.

»Atombombe« wird in Brüssel mit makaberem Humor die schärfste Waffe im Sanktionsarsenal der Europäischen Union für Mitgliedstaaten genannt. Gemeint ist Artikel 7 im gültigen EU-Vertrag, erstmals formuliert mit dem Reformvertrag von Amsterdam vor 18 Jahren. Danach kann beim Verstoß gegen Grundsätze der Union dem betroffenen Land im schwersten Fall auch das Stimmrecht entzogen werden. Angedroht wurde das schon, doch blieb diese Sanktion immer nur Abschreckung. Nun soll das Strafverfahren erstmals eingeleitet werden, wie die EU-Kommission am Mittwoch mitteilte.

Anfang vergangenen Jahres hatte die Behörde, die über die Einhaltung der Verträge in der Union wacht, erstmals Bedenken wegen möglicher rechtsstaatlicher Verstöße in Polen geäußert. Und seitdem haben sich die Fronten immer stärker verhärtet. Brüssels Vorwurf: Warschaus nationalkonservative Regierung höhle mit ihrer auch im Lande selbst umstrittenen Justizreform die Rechtsstaatlichkeit und die Gewaltenteilung aus und gefährde so die Grundwerte der EU. Erst in den letzten beiden Tage hatte man demonstrativ zwei Gesetze, die auf das Oberste Gericht und den Landesjustizrat zielen, durch das Parlament gebracht. Damit solle der Einfluss auf Richter und Gerichte ausgeweitet werden, so Kritiker. Insgesamt gehe es um 13 Gesetze, die »eine ernsthafte Gefahr für die Unabhängigkeit der Justiz« darstellten, hieß es in der Brüsseler Begründung.

Man strebe das Sanktionsverfahren nur schweren Herzens an, betonte Kommissionsvize Frans Timmermans. Doch gebe es keine andere Option. Denn hier gehe es nicht nur um Polen, sondern um die gesamte EU. Man bleibe aber dialogbereit. Sein Chef Jean-Claude Juncker hat den polnischen Regierungschef Mateusz Morawiecki von der Partei »Recht und Gerechtigkeit« (PiS) deshalb nach Brüssel eingeladen. Ob Warschau allerdings die Empfehlungen aus Brüssel zur Konfliktbeilegung aufnehmen wird, darf bezweifelt werden. Am Mittwoch reagierte man deutlich verärgert. Der Antrag sei »vor allem politisch, nicht rechtlich« begründet, kritisierte das Außenministerium. Diese Justizreform sei »unbedingt nötig«, twitterte Premier Morawiecki. Warschau will den Streit vor dem Europäischen Gerichtshof ausfechten.

Die amtierende Bundesregierung dagegen unterstützt die Linie der Kommission. Diese habe es sich tatsächlich nicht leicht gemacht, so Regierungssprecher Steffen Seibert in Berlin. Der Entscheidung sei ein konstruktiver und intensiver Dialog vorausgegangen. Aber nicht alle EU-Staaten denken so. Letztlich obliegt es dem Rat der Mitgliedsländer, Polen zur Einhaltung der Normen zu bewegen. Die Zustimmung des Europaparlaments vorausgesetzt, reicht zwar eine Vier-Fünftel-Mehrheit, um die Erörterung einer schweren Verletzung der EU-Grundwerte auf die Agenda zu setzen. Eine Verurteilung Warschaus jedoch muss einstimmig erfolgen. Und da hat Ungarn schon sein Veto angekündigt.

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