Mich mag ja eh keiner
Die Deutschen fürchten sich nicht, sie ängstigen sich lieber.
Furcht, so lehrt uns die Psychologie, ist etwas Gutes, Angst dagegen nicht. Die Furcht ist auf eine reale Bedrohung fokussiert, was bedeutet, dass sie in der Regel rasch abklingt, wenn die Bedrohung wieder vorbei ist. Die Furcht hilft beim Überleben. Angst aber ist die böse Schwester der Furcht. Sie ist weniger stark ausgeprägt, oft diffus, ohne konkretes Objekt und von ständiger Anspannung und Wachsamkeit geprägt. Die Angst ist ein fieses Geschöpf, denn sie dauert noch an, wenn ihre Ursache längst nicht mehr vorhanden ist. Mit Angst kann man zwar überleben, sie macht das Leben aber unendlich schwer und kompliziert. Das Objekt der Angst kann ja überall lauern, und wer weiß schon, wie es sich getarnt hat, damit wir es nicht bemerken.
Wir Deutschen sind die weltweit führenden Angst-Spezialisten. Schon Mitte des 19. Jahrhundert bezeichnete der dänische Philosoph Søren Kierkegaard diese unbegründete diffuse Anspannung, dieses Leiden an der Welt als »typisch deutsch«. Die »deutsche Angst« oder »German Angst« ist deshalb untrennbar mit einem anderen Begriff verbunden: dem »Weltschmerz«. Man kann diesen Begriff nur schwer begrifflich fassen; es ist eher ein körperloses Leiden als eine physische Erscheinung. Vor allem aber ist der »Weltschmerz« ein sehr lustvolles Gefühl. Eine der zutreffendsten Beschreibungen dieses Gefühls findet sich in Heinrich Heines »Deutschland, ein Wintermärchen«. Heine erzählt zu Beginn vom Grenzübertritt: Und als ich an die Grenze kam,/ Da fühlt ich ein stärkeres Klopfen/ In meiner Brust, ich glaube sogar/ Die Augen begunnen zu tropfen. Es sind jedoch keine Freudentränen, die der ins Exil getriebene Dichter hier schamhaft vergießt, sondern Tränen des Schmerzes: Und als ich die deutsche Sprache vernahm,/ Da ward mir seltsam zumute;/ Ich meinte nicht anders, als ob das Herz/ Recht angenehm verblute.
Eines der in Heines »Wintermärchen« immer wiederkehrenden Motive ist das der Angst. Heine hatte vor vielem Angst: vor seinen Freunden wie seinen Feinden, vor den Folgen des guten Essens, vor dem Wetter, der Vergangenheit - und vor der Zukunft sowieso: Doch dieser deutsche Zukunftsduft/ Mocht alles überragen,/ Was meine Nase je geahnt -/ Ich konnt es nicht länger ertragen
Diese, den Deutschen zugeschriebene Grundstimmung, hat viele Ursachen und historisch betrachtet wurzelt sie im Dreißigjährigen Krieg, dessen Beginn sich im kommenden Jahr zum 400. Mal jährt. Durch diesen Krieg wurden weite Teile des Landes entvölkert, konnten viele der Bewohner nur durch Kannibalismus überleben, wurde der Mensch des Menschen Wolf. Als der Krieg 1648 endete schrieb der Komponist Heinrich Schütz (1585 - 1672), der den frühen Tod seiner Frau verkraften musste, Pestepidemien und die Plünderungen und Verwüstungen der marodierenden Soldateska überlebt hatte, sein berühmtes Kirchenlied »Verleih uns Frieden gnädiglich«. Auf den Menschen, da war sich Schütz wohl sicher, war kein Verlass mehr, hier half nur noch der göttliche Gnadenakt.
Wer von den Überlebenden nach diesem Krieg keine Furcht kannte, dem war nicht mehr zu helfen. Und wer von den Überlebenden nicht bleibende Angst in sein Seelengemüt aufgenommen hatte, sondern die Angstlosigkeit propagierte, musste mit Fug und Recht als verrückt gelten. Menschen, die von Angst getrieben sind, neigen allerdings aus Selbstschutz und zum Zwecke der Verdrängung der eigenen Angst dazu, selbst Angst zu verbreiten. Die Nachbarn Deutschlands mussten dies in den folgenden Jahrhunderten mehrfach schmerzhaft erfahren.
Es ist also kein Wunder, dass sich »Angst« sich ähnlich wie »Weltschmerz« im englischsprachigen Raum eingebürgert hat. Die »German Angst« ist für die notorisch optimistischen US-Amerikaner geradezu zum Synonym für Zauderhaftigkeit, ja für permanente Weltuntergangsstimmung geworden. Wenn in den USA Friedensbewegte auf die Straße gingen, um zu protestieren, taten sie das mit dem Lied »We shall overcome«; in Deutschland klang selbst das hoffnungsvolle »overcome« in den Hochzeiten der westdeutschen Friedensbewegung in den frühen 1980er Jahren eher wie »overkill«. Das ist zwar ein pauschaler Befund, aber ganz falsch ist er nicht; bis hin zu den Antideutschen herrscht hierzulande die Einstellung vor, das früher alles schlecht war und heute noch schlechter ist. Man schaue sich einmal die Gesichter von deutschen Politikern mit ihren runtergezogenen Mundwinkeln an!
Nun hat diese »German Angst«, mit der die US-Amerikaner auch die doch eher zurückhaltende Militär- und Außenpolitik Deutschlands nach 1990 umschreiben, einen durchaus begründbaren historischen Hintergrund. Wer, wie Deutschland, in einem Jahrhundert gleich zwei Weltkriege vom Zaun gebrochen und bis hin zum Genozid jedes Menschheitsverbrechen zu verantworten hatte, hat allen Grund, zurückhaltender in geopolitischen Dingen zu sein.
Politik und Geschichte aber sind schlechte Ratgeber, wenn es um die großen, wichtigen Dinge geht. Zum Beispiel um Fußball (Deutschland muss auch 2018 wieder Weltmeister werden!). Oder um die Religion. Wäre Jesus, dieser hoffnungslos optimistische galiläische Jude, nicht vor rund 2000 Jahren in Judäa zur Welt gekommen, sondern, sagen wir, hätte es damals schon Deutschland gegeben und Jesus hätte in Gelsenkirchen, dem Bayerischen Wald oder in der Uckermark das Licht der Welt erblickt, die Geschichte des Christentums wäre ganz anders verlaufen.
Schon allein die Ankündigung des Engels gegenüber den Hirten, »Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird«, hätte nicht Beruhigung, sondern Angst und Schrecken ausgelöst. Die Hirten wären nicht zum Stall gezogen, sondern hätten sich in eine Höhle verkrochen, ums sich dort ihrem »Weltschmerz« zu ergeben. Keiner der Heiligen drei Könige hätte sich auf den Weg gemacht und die himmlischen Heerscharen hätten ohne Zuhörer und Zuschauer ihren Lobgesang »Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens« anstimmen müssen. Und hätte sich ein Deutscher zufällig an den Ort des Wunders verirrt, hätte er sich sicherlich nicht angesprochen gefühlt, sondern zu sich gesagt: Ich kann damit nicht gemeint sein, mich mag ja eh keiner.
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