Mord in der Puppenstube
Im Medizinhistorischen Museum der Charité Berlin bekommt man weiche Knie.
Eine zersprungene Blumenvase in einem hellen Türkiston, ein umgekippter Stuhl aus Kiefernholz. An der Wand steht eine Kommode. Auf dem Stuhl erkennt man den blutverschmierten Abdruck einer Hand, an der Wand befinden sich Spritzer der gleichen Substanz. In einer Schale auf der Kommode liegen einige Briefe. Der Absender: das örtliche Jugendamt. Die Spuren sind jeweils mit kleinen Schildern markiert. Auf der Kommode sind bereits Fingerabdrücke sichtbar gemacht worden. »Es kam zum Streit über das Sorgerecht, als der Brief vom Jugendamt kam«, erklärt Navena Widulin. »Der Mann schlug mit der Vase auf die Frau ein, doch diese konnte zunächst in ein nahe gelegenes Waldstück entkommen. Dort erschlug er sie.«
Navena Widulin ist Präparatorin in der Berliner Charité und hat die aktuelle Sonderausstellung unter dem Titel »Hieb und Stich« im Medizinhistorischen Museum kuratiert. Auf die Frage, ob ihr die jahrelange Beschäftigung mit dem Thema Mord und Totschlag nicht irgendwie Angst mache, lächelt sie nur. Widulin trägt einen weißen Arztkittel, stützt sich lässig auf eine Vitrine mit Mordwaffen und sagt: »Die Beschäftigung mit dem Thema hat mir immer sehr viel Spaß gemacht. Grundsätzlich habe ich eine professionelle Distanz und nehme keinen der Fälle mit nach Hause.«
Noch bis zum 14. Januar kann man im Medizinhistorischen Museum in Berlin-Mitte viel über das Gebiet der Rechtsmedizin erfahren. Vom DNA-Abgleich über Toxikologie, Ballistik, Daktyloskopie bis hin zur Computertomographie - Stück für Stück wird das Gebiet in der Ausstellung erschlossen und dem Besucher näher gebracht. Durch die Kooperation mit dem Landeskriminalamt konnte Widulin viele originale Tatwerkzeuge wie Messer und selbstgebaute Pistolen sowie weitere Asservate für die Ausstellung nutzen. Im Sommer durfte sie mit den Beamten sogar mehrere Tatorte besuchen und sich das Vorgehen als Beobachterin vor Ort anschauen. Für sie die Erfüllung eines lang gehegten Wunsches: »Dabei zu sein war der Wahnsinn. Ich wollte immer in die Rechtsmedizin. Für jede Materialgruppe gibt es beim LKA einen Experten. Die Sicherung der Spuren dauert extrem lange. Im Fernsehen geht das immer sehr schnell. Allein die Analyse eines Fingerabdrucks kann Stunden dauern, da zwei Experten unabhängig voneinander jeden Fingerabdruck mit der Lupe prüfen müssen. Da gibt es quasi keinen technischen Fortschritt«, sagt Widulin.
Stolz präsentiert die Medizinerin eine weitere Vitrine. In Gläsern mit Alkohollösung befinden sich dort Maden in unterschiedlicher Menge. »Ich durfte bei drei Leichen die Maden abnehmen. Durch die Zahl der Maden kann man die Todesdauer bestimmen, denn Fliegen legen innerhalb von Stunden ihre Eier auf Leichen ab. Das große volle Glas ist von einem Mann, der drei Wochen im Juni in einem Waldstück gelegen hatte«, erläutert sie.
Zwei Schritte weiter ist der halbverweste Kopf eines Mannes zu sehen, der aus einer Zombieserie wie »The Walking Dead« zu stammen scheint. Je eindrücklicher man diesen gruseiligen Schrumpfkopf anschaut, desto stärker wird das drückende Gefühl in Magen und Brust des Betrachters. Es fällt schwer, länger hinzuschauen. Unweigerlich denkt man an seinen eigenen Tod. Will man denn selber einmal unter der Erde liegen und von Käfern und Maden zerfressen werden? Warum denn eigentlich nicht, immerhin ist das doch ein zutiefst natürlicher Vorgang. Alternativ könnte man sich nur verbrennen oder zur See bestatten lassen.
Es ist zehn Uhr am Vormittag und damit offizielle Öffnungszeit des Museums. Eine Schulklasse stürmt als erstes in die Ausstellung. »Ihh, die Maden!«, ruft ein Mädchen. »Und der Kopf, das ist ja wie im Zombiefilm!«
Einige Schritte weiter schlendert eine Familie durch die Gänge. »Ja, ich bin medizinisch interessiert«, erklärt die Mutter. »Wir machen einen Familienausflug. Sehr interessant das alles hier.« Doch schon zieht ihre 14-jährige Tochter sie am Ärmel. Wenig später steht das junge Mädchen gebeugt vor einer Vitrine mit mehreren blutverschmierten Messern, die durch ihre Verwendung bei einer kapitalen Straftat teilweise verbogen worden sind.
Wie profan diese hier ausgestellten Tatwerkzeuge doch sind. Einfache Küchenmesser, vorher zum Gemüse putzen oder zum Brot schneiden genutzt, wurden in Bruchteilen von Sekunden zu tödlichen Waffen. Wer die Messervitrine betrachtet, dem schnellen ganz von alleine Gedanken durch den Kopf: Wie weit ist der einzelne Mensch eigentlich davon entfernt, einen Mord zu begehen? Ist der Schritt vom verbalen Streit zum Totschlag wirklich so groß, wie die Gesellschaft zuweilen glaubt? Folgt man den Informationen in der Ausstellung, wird man eher vom Gegenteil überzeigt.
»Unser Ziel ist es nicht, Angst zu machen, wir wollen einfach nur sachlich aufzeigen, wie eine Mordermittlung im Einzelnen abläuft und technisch funktioniert«, sagt Kuratorin Widulin. Sie deutet auf eine Schädeldecke mit einem großen Loch in der Mitte. An einer Schädeldecke könne man gut nachvollziehen, ob es sich um einen aufgesetzten Schuss gehandelt habe oder ob mit Abstand geschossen wurde. Bei einem aufgesetzten Schuss sei nämlich stets die Haut abgeplatzt. Bei einem aus der Entfernung abgegebenen Schuss bleibe einfach nur ein Loch übrig, erklärt sie.
Dass es auch bei einer Mordermittlung zuweilen possierlich zugehen kann, zeigen die ebenfalls ausgestellten so genannten Babystuben, die mittels eines Puppenhauses Mordszenerien nachstellen und vor allem zur Rekonstruktion von Tathergängen in geschlossenen Räumen genutzt werden. Der Besucher erfährt, dass diese Technik vor allem bei der Schweizer Polizei verbreitet ist.
Wem die Exponate der »Hieb und Stich«-Ausstellung noch nicht gereicht haben, der kann sich auch noch die medizinhistorische Dauerausstellung ein Stockwerk darüber anschauen. Über Jahrhunderte wurden hier kranke Organe in Formaldehyd eingelegt und für die wissenschaftliche Forschung archiviert. Ob Fettleber, Wasserkopf, Arterienverkalkung oder Augenkrankheiten - für alles finden sich hier anschauliche Exponate.
»Ich habe wirklich weiche Knie gekriegt, darum sitze ich hier draußen«, sagt Bianca. Die 23-Jährige ist Schülerin und mit ihrer Klasse zu Besuch im Museum. Sie möchte gerne Hebamme werden, doch die missgebildeten Föten in der Dauerausstellung haben sie geschafft. »Ja, es macht Spaß, aber bei den Missbildungen wurde mir irgendwie ganz schwindelig«, gibt sie zu. Ob die junge Frau ihren Berufswunsch noch mal überdenken wird?
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