»Weiber, küsst die Schienen, ich komme.« Was ein russischer Soldat an die Garnisonsmauer Wünsdorfs sprayte, markierte das Ende einer 100-jährigen Militärtradition. Es begann das regionale Konversionszeitalter.
Das war 1994. Seither darf die 6900-Seelen-Gemeinde südlich von Berlin ohne das Militär auskommen. Das streng bewachte, mit MG und Kanone bewehrte Eingangstor, das die B 96 abrupt unterbrach, ist einem Discounter gewichen. Eine Asphaltstraße führt hoch in die Waldstadt - vorüber am erneuerten Kommandantenhaus, in dem jetzt bei gutem Zuspruch die asiatische Küche residiert.
Ringsum sind einstige Kasernen aufwendig saniert worden. Die Landesregierung hat in ihr Musterprojekt in Sachen Konversion 225 Millionen Euro gesteckt - in die Infrastruktur ebenso wie in die Sanierung. Dennoch steht trotz günstiger Mieten eine Unzahl von Wohnungen leer. In gängigen Analysen ist von 1000 Wohnungen die Rede, Ortsbürgermeisterin Sabine Brumm hält dies für übertrieben. Sie geht von womöglich 300 leeren Einheiten aus. Die unterschiedlichen Zahlen erklären sich aus der mäßigen Auskunftsfreude der besitzenden Vermieter.
Aus einem ehemaligen kaiserlichen Pferdestall ist ein Museum gewachsen, in dem die Geschichte des Heidedörfchens nachgezeichnet wird. In einem anderen Gebäude wird der Alltag der russischen Soldaten beschrieben. Bis zu 50 000 dienten seit Kriegsende zeitweise in der Garnison.
20 000 Leute besuchen alljährlich die Ausstellungen samt der Bunker und spitzen Luftschutztürme, die zum Anschauen hergerichtet wurden. Von hier aus dirigierte das Oberkommando der Wehrmacht den Krieg gegen die Sowjetunion und andere Völker. Auf Wünsdorfer Gelände wurden die sogenannten Wunderwaffen namens »Dicke Berta« sowie Wernher von Brauns Raketen erprobt. Kaiser und Könige, Reichskanzler, SS-Größen und Generalstäbler gaben sich die Klinke in die Hand.
Russische Rekruten führten hier militär-martialische Shows auf und paradierten vor Ulbricht, Honecker und anderen, um namens ihrer Obrigkeit Kampfstärke und unverbrüchliches brüderliches Miteinander zu bekunden. Aus den Bunkern wurde die DDR regiert, so es in Moskau als nötig erachtet wurde, etwa bei der Operation Mauerbau. Zu DDR-Zeiten erinnerte man sich im Garnisonskomplex der Kommunistin Rosa Luxemburg. Sie war nach ihrer Ermordung 1919 in einen Kellerraum des Lazaretts gebracht worden. Die Russen ehrten die Kommunistin, indem sie eine entsprechende Tafel an der Lazarettwand anbrachten. Dies und manches andere findet sich nicht in der Ausstellung. Irgendeine Baufirma habe die Tafel geklaut, sagt Museumsvereins-Vorsitzender Dieter Kießlich. Er möchte Historie aus Sicht Betroffener im Ort darstellen. Großflächige Schautafeln, dazu persönliche Dokumente, die Leute aus dem Familienerbe anschleppten, Erläuterungen in Mappen. Die Politik will Kießling draußen lassen. »Auf Wunsch wartet ein Bunker-Biwak auf Sie - Lagerfeuer, Feldverpflegung und Getränke in einer wild-romantischen Militärlandschaft«. Man wirbt in einer gewöhnungsbedürftigen Diktion.
Neben Museen entstand ein Komplex militärhistorisch geprägter Antiquariate. Hier und zu literarischen Veranstaltungen sowie Konzerten finden sich weitere 20 000 Besucher im Jahr ein. In kurzer Zeit siedelten sich 19 Antiquariate an, meist als Zweigstelle ihres Stammsitzes in Berlin, wie Werner Borchert vom Tourismus-Verein bedauert. Sie setzten sich ins konversionsgemachte Bett, brauchten faktisch nur die Hand aufzuhalten, weil ABM-Kräfte die Arbeit taten. Als die abgezogen wurden, bauten viele Antiquariate ab. Jetzt sind noch fünf Händler im Geschäft und bieten um die 230 000 Bände sowie allerhand Kunstwerk an.
Doch an allem Anfang des Konversionsprojektes standen die Mühen, aus einer über Jahrzehnte für den Bürger verbotenen und nunmehr menschenleeren Gemarkung einen wohnlichen Ort zu machen. Was blieb von der Garnison, das waren 404 Katzen, 26 Hunde, eine Ziege und ein Mufflon, kontaminierter Boden, 50 000 Tonnen Sperrmüll, 900 mehr oder weniger heruntergewirtschaftete Gebäude.
Bis Ende vorigen Jahres wurden auf dem Kasernengelände 12 837 Spreng- und Brandbomben, Granaten aller Kaliber, Waffen und Waffenteile ausgebuddelt und vernichtet. Zu 90 Prozent sind die Flächen laut Innenministerium beräumt. Anders außerhalb der Kasernenstadt, dem einstigen Manöverfeld. Hier rechnet man noch mit einer »nicht konkret zu kalkulierenden Menge unentdeckter Kampfmittel«. Unterdessen hat sich die Graffiti-Szene der Mauern bemächtigt, die abwechselnd mit Drahtzäunen den engeren militärischen Komplex in der Südstadt abschirmt. In Teilen bietet er dasselbe traurige Antlitz wie vor einem Dutzend Jahren. Nur dass die bauliche Substanz weiter und weiter verfällt. An »stadtbildprägenden Objekten« seien zwar Sicherungsvorkehrungen getroffen worden, hieß es aus dem Brandenburger Finanzministerium, doch sei die Entwicklungsgesellschaft Wünsdorf wirtschaftlich nicht in der Lage, Projekte zu finanzieren. Investoren zu gewinnen, sei »ohne tragfähige Ansätze« geblieben.
Nachdem bislang 125 Hektar an private Investoren veräußert werden konnten, stehen noch immer 300 Hektar zum Verkauf. Das bleibt auf Dauer nicht ohne Wirkung auf Wünsdorf. Ein Drittel der Bewohner sind im Senioren-, ein Drittel im Nachwuchsalter, sagt Brumm. Viele leben von staatlicher Unterstützung. Vom mittleren Drittel im arbeitsfähigen Alter sind um die 20 Prozent arbeitslos, der Rest geht dem Job zu 70 Prozent außerhalb Wünsdorfs nach.
Stadteinwärts ist nach Vorgaben der Landesregierung ein Beamtenstädtchen entstanden, wo sich in sanierten Kasernen 17 Landesbehörden ausbreiten - vom Gesundheits- bis zum Amt für Verbraucherschutz. Leider hat sich keiner der derzeit 878 Mitarbeiter (geplant waren 1028) in der Gemeinde angesiedelt, so Sabine Brumm. Daran sei die Landesregierung nicht ganz unschuldig - sie zahle die An- und Rückfahrt aus und nach Potsdam oder anderen Wohnörtlichkeiten. Das verführe nicht gerade zu Umzügen.
Alles sei im Entstehen und nicht frei von Rückschlägen, heißt es aus dem Wirtschaftsministerium. »Erforderlich ist eine Anpassung an die sich wandelnden Rahmenbedingungen.« Was meint, dass keine Mittel mehr fließen sollen. Ist die Konversion beim Musterprojekt der Landesregierung gescheitert? Borchert winkt ab. Man schaffe es auch mit den vielen Ideen und dem Fleiß der Wünsdorfer allein, den derzeitigen Stand zu halten. Voran komme man vermutlich nur noch mit privaten Investoren wie dem Bauunternehmer Gerhard Gollan, der nicht nur Gebäude saniert, sondern auch beispielsweise die Museen gesponsert hat. Wenn allerdings der Kreis elf Monate benötige, um eine Baugenehmigung zu erteilen, würden Investoren nicht gerade angezogen, wird Gollan zitiert. Wenn nur mal ein Projekt klappen würde, so Brumm, sich vielleicht eine Firma ansiedeln würde - so mit 300 Arbeitsplätzen -, dann käme man voran. Doch ein Sportzentrum von bundesweitem Rang, das seit drei Jahren gebaut werden soll, harrt des Startschusses. Die Ministerien, gebeutelt durch Pleiteprojekte wie Cargolifter, Chipfabrik und Lausitzring, wollen den Geldkoffer der Investoren sehen, die aber erst Planungssicherheit haben, ein Teufelskreis.
Auch das von Moskau geplante russische Haus der Begegnung mit einer von namhaften Großmeistern via Internet geführten Schachschule, einer Ausstellung über sowjetische Streitkräfte und Begegnungen mit Kultur und Kunst scheint neuerdings in den Sternen zu stehen. Einem Gerücht zufolge will Moskau das Projekt in einem weit kleineren Rahmen angehen. - »budjet«, heißt es nach altem russischem Brauch - es wird, irgendwann und irgendwie.
Weitere Details: Kaiser/Herrmann »Vom Sperrgebiet zur Waldstadt«, Chr. Links Verl., 19,90 EUR auch über ND-Bücherservice zu beziehen.
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