• Video
  • Gerhart-Hauptmann-Schule

»Flüchtlingsschule« in Kreuzberg geräumt

Nach fünf Jahren verlassen Geflüchtete die besetzte Schule noch vor dem Eintreffen der Polizei

  • Johanna Treblin
  • Lesedauer: 4 Min.
»Flüchtlingsschule« in Kreuzberg geräumt

Die seit fünf Jahren von Geflüchteten besetzte Gerhart-Hauptmann-Schule in Kreuzberg ist geräumt. Am frühen Morgen ging die Gerichtsvollzieherin gemeinsam mit Polizisten in Kampfmontur in das Gebäude in der Ohlauer Straße. Nach Angaben der Sprecherin des Bezirksamts Friedrichshain-Kreuzberg, Sara Lühmann, wurden dort keine Bewohner mehr angetroffen. Vor der Schule standen rund 200 Demonstranten und trotzten Regen und Kälte. Sie forderten ein Bleiberecht für Geflüchtete ein und kritisierten die Residenzpflicht, die es Geflüchteten verbietet, sich frei innerhalb Deutschlands zu bewegen.

Beides sind Forderungen, die Aktivisten im Herbst 2012 auf einem Flüchtlingsmarsch von Würzburg nach Berlin an die Politik gestellt hatten. Die Teilnehmer hatten anschließend ein Protestcamp auf dem Oranienplatz in Kreuzberg erreichtet.

Elf oder zwölf Menschen sollen zuletzt noch im Südflügel der ehemaligen Schule gewohnt haben – die Angaben variieren. Ursprünglich hatten 23 Besetzer einen Räumungstitel erhalten. Etwa die Hälfte von ihnen sei aber schon länger nicht mehr in der Schule gewesen, erklärte Lühmann. Da sich die Bewohner beim Sicherheitsdienst an- und abmelden mussten, wenn sie die Schule betraten oder verließen, lässt sich die Zahl der tatsächlichen Bewohner recht genau beziffern. Denjenigen, von denen Kontaktdaten vorhanden waren, wurde eine alternative Unterkunft angeboten, sagte Lühmann.

Bereits am Vortag sollen die Geflüchteten mit Bussen in eine Unterkunft in Schöneweide gebracht worden sein. Ihnen hat das Bezirksamt bereits am Montag schriftlich zugesichert, dass sie nach Möglichkeit in die neue Gemeinschaftsunterkunft in der Franz-Künstler-Straße in Kreuzberg ziehen können. Das Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten habe signalisiert, dass dies wahrscheinlich möglich sei, so Lühmann. Das Tempohome soll innerhalb der nächsten Wochen eröffnen.

Angekündigt war die Gerichtsvollzieherin für 8 Uhr morgens, tatsächlich war sie schon über eine Stunde früher da. Gegen halb sieben begann die Polizei, die Straße abzusperren. Zu dem Zeitpunkt hatten sich zunächst nur wenige Journalisten vor der Schule nahe des Görlitzer Parks eingefunden. Ab 7 Uhr tröpfelten die ersten Demonstranten ein. Gegen 7.30 startete Hans-Georg Lindenau, Besitzer des Gemischtwarenladens für Revolutionsbedarf M99 in der Falckensteinstraße, eine Kundgebung. Sprechchöre wie »Say it loud, say it here – refugees are welcome here« und »Kein Mensch ist illegal« tönten über die mittlerweile gesperrte Straße. Bis 8 Uhr hatten sich bereits etwa 200 Demonstranten vor der Schule eingefunden.

Auch parlamentarische Beobachter fanden sich in der Ohlauer Straße ein. Hakan Taş, flüchtlings- und innenpolitischer Sprecher der Linksfraktion im Abgeordnetenhaus, sagte: »Am Ende war der Kostenfaktor entscheidend dafür, dass das Projekt hier nicht mehr so weitergeführt werden konnte.« Betrieb und Bewachung der Schule sollen den Bezirk für die Zeit der Besetzung insgesamt fünf Millionen Euro gekostet haben. »Ich bin froh darüber, dass eine Lösung gemeinsam mit den Geflüchteten gefunden worden ist, und dass die Geflüchteten untergebracht worden sind.« Nicht zufrieden sei er darüber, dass die Forderung der Geflüchteten nach einen selbstverwaltetem Flüchtlingszentrum nicht umgesetzt worden sei. »Ein solches Zentrum soll kommen, wir müssen dafür eine Einrichtung finden, auch nach Möglichkeit hier in Friedrichshain-Kreuzberg.« In der Ohlauer Straße werde zwar auch ein internationales Flüchtlingszentrum entstehen, aber kein von Geflüchteten selbstverwaltetes.

Auch Antje Kapek, Vorsitzende der Grünen-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus, zeigte sich erleichtert über den friedlich Ablauf der Aktion. »Dieses Verfahren hier wäre mit dem alten Senat nicht möglich gewesen. Für das jetzige Ergebnis haben alle an einem Strang gezogen.« In die Verhandlungen sollen sowohl das Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg als auch die Senatsverwaltungen für Integration und Inneres und das Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten eingebunden worden sein.

Zu der Einigung gehört auch, dass »Aufenthaltsmöglichkeiten noch einmal eruiert werden« sollen, so Sprecherin Lühmann. Asylverfahren sollen nun auch für diejenigen der ehemaligen Besetzer eröffnet werden, die noch keinen Asylantrag gestellt haben. Auch die Bleibemöglichkeiten der übrigen Bewohner sollen neu geprüft werden – mit offenem Ergebnis.

Die Schule in der Ohlauer Straße war im Dezember 2012 durch Flüchtlingsaktivisten aus ganz Deutschland besetzt worden, die zuvor auf dem Oranienplatz campiert hatten. Nach früheren Räumungsversuchen im Jahr 2014 einigten sich Bewohner und Bezirk auf eine befristete Nutzung. Im Sommer 2016 reichte der Bezirk allerdings eine Räumungsklage gegen die Bewohner ein. Im Sommer 2017 gab das Landgericht der Klage statt und begründete diese Entscheidung in erster Linie mit der Einigung über die befristete Nutzung. Deshalb könnten sich die Bewohner nicht auf ein dauerhaftes Wohnrecht berufen.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

Mehr aus: Video