Tunesier wollen nicht mehr warten

Seit 2011 hat es keine Regierung geschafft, der ökonomischen Krise Herr zu werden

  • Claudia Altmann, Algier
  • Lesedauer: 4 Min.

Schlaflose Nächte im Januar haben für Tunesiens Präsidenten beunruhigende Tradition. Im Januar 1984 hatten »Brotrevolten« mit mehr als 100 Toten die damalige Regentschaft Habib Bourguibas schwer erschüttert. Vor sieben Jahren fegten die landesweiten Proteste dessen Nachfolger Zine El Abidine Ben Ali aus dem Land. Seit einer Woche entlädt sich der Volkszorn gegen die politische Führung unter Staatschef Beji Caid Essebsi.

Bei den Unruhen in Dutzenden Städten ist bisher ein Mensch ums Leben gekommen, wurden 49 Polizisten verletzt und mehr als 600 Personen festgenommen. Letzteren wird Diebstahl, Plünderung oder Brandstiftung vorgeworfen. Es handele sich um »Vandalen«, die soziale Spannungen ausnutzen würden, erklärte Regierungschef Youssef Chahed in der nordtunesischen Stadt Tebourba, wo ein Mann unter bisher ungeklärten Umständen bei den Unruhen gestorben war.

Hier wie anderswo gingen die Sicherheitskräfte mit Tränengas gegen die aufgebrachte Menge vor, die »Keine Angst, kein Terror, die Straße gehört dem Volk!« skandierte. Vor Banken, Postfilialen und Regierungsgebäuden hat die Armee in mehreren großen Städten Soldaten postiert. In den meisten Städten indes verliefen die Proteste friedlich, betonen die Organisatoren der Bewegung »Fesch nestannau!« (Worauf warten wir!). »Wir verlangen von der Regierung, dass sie ihre Sparpolitik überdenkt, denn es sind die Ärmsten, die am meisten darunter leiden«, erklärte deren Sprecherin Henda Chenaoui. Auslöser der Proteste sind die seit Jahresbeginn in Kraft getretenen Preissteigerungen für Diesel, Telefonkosten und Lebensmittel. Am Mindestlohn von umgerechnet 111 Euro ändert sich dagegen nichts.

Zudem schmilzt die Kaufkraft durch die steigende Inflation. Der Verbraucherpreisindex hat sich in den vergangenen sieben Jahren verdreifacht, die Lebensmittelpreise sind um das Doppelte gestiegen. Im neuen Finanzgesetz hat die Regierung außerdem eine Erhöhung der Mehrwertsteuer um ein Prozent beschlossen. Um die Sozialversicherungskassen zu retten, wurden zusätzliche Abgaben auf Gewinne und Löhne eingeführt.

Seit den politischen Veränderungen von 2011 hat es keine Regierung geschafft, der ökonomischen Krise Herr zu werden. Das Haushaltsdefizit beträgt derzeit 1,4 Milliarden Euro und die Staatsverschuldung macht 70 Prozent des Bruttoinlandproduktes aus. Um die Ausgaben zu reduzieren, wurde ein Einstellungsstopp im Öffentlichen Dienst verhängt.

Damit kommt die Regierung der Forderung des IWF nach, der davon die Zahlung weiterer Hilfsgelder abhängig macht. Angesichts der weiterhin hohen Arbeitslosigkeit aber flüchten sich viele Tunesier in den informellen Sektor. In diesem stetig wachsenden Bereich versuchen 60 Prozent der erwerbstätigen Männer und 80 Prozent der erwerbstätigen Frauen, ihre Existenz zu sichern. Dem Versprechen der Regierung, 2018 sei das letzte Jahr mit enger geschnallten Gürteln, glaubt daher kaum noch jemand.

Henda Chenaoui von »Worauf warten wir!« sieht denn auch im Vertrauensverlust in die Regierung den Grund dafür, dass sich so viele ihren Aufrufen angeschlossen haben. »Die Bevölkerung glaubt den Politikern nicht mehr«, so ihre Einschätzung. »Der soziale Frieden wird durch Repression, die Verteufelung der sozialen Bewegungen und das Schweigen des Staates gefährdet.« Neben Preissenkungen für Grundnahrungsmittel fordern sie daher eine soziale und medizinische Versorgung für Arbeitslose, staatliche Unterstützung für bedürftige Familien und einen Arbeitsplatz für mindestens eine Person pro Familie.

Unterstützung erhält die Bewegung von der linken oppositionellen »Volksfront«. Diese distanziert sich deutlich von den Gewaltausbrüchen. »Es ist nicht illegitim, Staatseigentum zu zerstören«, sagte ein Sprecher. »Friedliche Demonstrationen jedoch sind Teil der Demokratie.« Die Regierung müsse dringend Lösungen für die jungen Tunesier finden. Für diese Position wird sie von der an der Regierung beteiligten islamistischen Partei En-Nahdha scharf kritisiert. »Es war zu erwarten, dass das neue Finanzgesetz wütende Reaktionen auslöst«, sagte dessen Führungsmitglied Subier Schudi. »Aber in dem demokratischen Klima, in dem sich Tunesien befindet, sollten sie organisiert und friedlich sein.« Der »Volksfront« warf er vor, in dieser ökonomisch kritischen Situation, die von der Bevölkerung weitere Opfer verlange, das Leiden der Menschen auszunutzen.

Indes war es gerade seine Partei, die bei Ausbruch der Aufstände vor sieben Jahren auf den Zug der sozialen Proteste aufgesprungen war. Inzwischen muss auch sie sich vorwerfen lassen, seitdem weder etwas zur Behebung der wirtschaftlichen Krise noch zur effektiven Bekämpfung der landesweit grassierenden Korruption unternommen zu haben.

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