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Der geheimnisvolle vierte Schuss
Indiens Oberster Gerichtshof soll den Mord an Mahatma Gandhi wieder aufrollen
Es war der Hindufanatiker Nathuram Godse, der am 30. Januar 1948 den »Vater« der indischen Unabhängigkeit, Mohandas Karamchand »Mahatma« Gandhi, mit drei Schüssen in die Brust ermordete. So steht es in jedem Lexikon. Der Einreicher einer Petition an den Obersten Gerichtshof spricht aber von einer angeblichen vierten Kugel, einem zweiten Täter und einer ausländischen Beteiligung - und fordert eine Neuverhandlung des Falles.
In wenigen Tagen ist das Ereignis, das damals das gerade fünfeinhalb Monate zuvor unabhängig gewordene Indien und seine Einwohner bis ins Mark erschütterte, 80 Jahre her. Dass ausgerechnet Mahatma Gandhi, der wichtigste Vorkämpfer der Eigenstaatlichkeit, zum Opfer eines Attentats wurde, hätten sich seine Landsleute kaum vorzustellen gewagt - obwohl historisch mehrere fehlgeschlagene Anschlagversuche mehr oder minder erwiesen kolportiert sind.
Den Leichenzug durch die Straßen der indischen Hauptstadt Delhi säumten Hunderttausende. Zumindest im Tode schaffte der kleine große Mann noch einmal, was ihm lebend zuletzt immer weniger gelungen war: Die Inder unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit zu einen. Dass die Teilung des vormals britisch beherrschten Subkontinents in zwei Nationen nicht zu verhindern war, hatte Gandhi bereits schwer getroffen. Noch mehr, als die ziemlich willkürliche Grenzziehung entlang religiöser Mehrheitsverhältnisse im Punjab und in Bengalen eine Fluchtbewegung von zehn Millionen Menschen in wechselseitige Richtung und blutrünstige Massaker an den Flüchtigen auslöste.
Dass sich Gandhi schützend vor die muslimische Minderheit gestellt hatte, war Hindu-Hardlinern wie dem 1910 geborenen Godse ein Dorn im Auge. Und der Mann, der die drei verhängnisvollen Schüsse abgefeuert hatte, war kein kleines Licht. Er war der Privatsekretär von Vinayak Savarkar, der als wichtigster Vordenker der hindunationalistischen Bewegung gilt. Diese war mit der Bharatiya Janata Party (BJP) von Premier Narendra Modi seit nunmehr gut dreieinhalb Jahren auch national wie in zahlreichen Einzelstaaten erstmals die eindeutig politisch dominierende Kraft.
Godse wurde am 15. November 1949 gemeinsam mit Narayan Apte, der als Drahtzieher des Mordkomplotts galt, hingerichtet. Vier weitere angeblich beteiligte Männer kamen mit Haftstrafen davon. So weit die offizielle Version der Ereignisse.
Dass manches anders gelaufen ist, glaubt aber der in Mumbai lebende Ingenieur Pankaj Kumudchandra Phadnis, der eine Neuaufnahme der Ermittlungen fordert und eine diesbezügliche Petition beim Supreme Court eingereicht hat. Der nachweislich in hinduradikalen Kreisen verwurzelte Phadnis bestätigte in einem Telefonat mit der Tageszeitung »Hindustan Times«, dass es berechtigte Hinweise auf einen vierten Schuss gebe, die damals bei den Untersuchungen unter den Tisch gekehrt wurden. Der Antragsteller spricht in dem Zusammenhang sogar von einer bewussten Vertuschung durch die Justizbehörden.
Was Phadnis auflistet, klingt nach einem ganz großen Politkrimi, denn womöglich seien es die Briten als düpierte vormalige Kolonialherren gewesen, die als Auftraggeber hinter einem zweiten Killer gesteckt hätten. Solches solle der damalige Botschafter in der Sowjetunion bereits im Februar 1948 von britischer Seite erfahren haben, behauptet Phadnis. Damit sei das Gerichtsverfahren eine Vertuschung der wahren Umstände gewesen. Der Mann aus Mumbai, der nach acht Jahrzehnten eine Neuauflage der Ermittlungen anstrebt, fokussiert sich auf eine vierte Kugel, die nachweislich nicht aus Godses Pistole stammen könne, da in der siebenschüssigen Waffe noch vier Schuss verblieben waren. Auch Augenzeugen wollen angeblich einen vierten Schuss gehört haben.
Aus seiner Sicht gebe es keinen Anlass, an den damaligen Darlegungen zu zweifeln, kein klares Indiz, das eine neue Untersuchung rechtfertigen würde, sagte jetzt der vom Supreme Court in der Sache berufene Anwalt Amrendra Sharan. Selbst wenn die Obersten Richter der Petition folgen sollten, ist unvorstellbar, dass ein neues Verfahren gesicherte Erkenntnisse zutage fördern kann. Es lebt keiner der Zeugen mehr, eine Autopsie wurde nicht vorgenommen, die Leiche nach hinduistischem Ritus verbrannt. Es gibt nichts, was sich mit modernsten Methoden genauer untersuchen ließe. Allerdings würde ein spürbares Wackeln der historischen Version schon durch etwas stärkere Zweifel dem Regierungslager in die Hände spielen. Die BJP gibt sich als Partei gerade mit Premier Modi selbst gern staatstragend und modern. Nicht einmal auf alle nationalen Minister trifft das aber zu. Und noch weniger auf die Kader der zweiten und dritten Reihe sowie einen Teil des Fußvolks, das vom gleichen Hass durchdrungen ist wie seinerzeit Attentäter Godse und seine Gruppe.
Wie sehr das Feuer noch lodert, war vor allem 2002 bei den Pogromen in Gujarat spürbar, als in Modis Heimatunionsstaat (unter ihm als Chefminister) bis zu 2000 Menschen umkamen - die meisten Muslime. Mitglieder der BJP, des Welthindurates, der Bajrang Dal und des Reichsfreiwilligenbundes (Rashtriya Swayamsevak Sangh), der als »Mutterorganisation« der gesamten Bewegung gilt, machten Jagd auf Angehörige der Minderheit, die massakriert wurden - Kinder, Frauen und Greise nicht ausgespart. Auch heute, anderthalb Jahrzehnte später, genügt schon der unbestätigte Vorwurf, eine nach Hindu-Glauben heilige Kuh geschlachtet zu haben, um durch die Hand von Radikalen das Leben zu verlieren.
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