Deutung des Kosmos

Das zeichnerische Werk von Willi Baumeister im Berliner Kupferstichkabinett

  • Klaus Hammer
  • Lesedauer: 4 Min.

Seit der großen Willi-Baumeister-Retrospektive 1989 in der Neuen Nationalgalerie sind 28 Jahre vergangen. Jetzt wird eine erlesene Auswahl des zeichnerischen Werkes dieses Pioniers der Moderne und der Nachkriegs-Abstraktion im Berliner Kupferstichkabinett vorgestellt, das zwar selbst nur wenige Zeichnungen von ihm besitzt, aber über einen guten druckgraphischen Bestand verfügt. So bedurfte es umfangreicher Leihgaben aus dem Archiv Baumeister im Kunstmuseum Stuttgart und auch aus einer Privatsammlung. Nicht in obligater entwicklungsgeschichtlicher Reihung stellt Kurator Andreas Schalhorn die etwa 100 Papierarbeiten, ergänzt durch Druckgraphiken aus eigenem Hause, vor, sondern ihre Gruppierung und Anordnung folgt einem freien Rhythmus. Es gibt ja kaum Skizzen im Werk Baumeisters. Die Papierarbeiten haben den gleichen Anspruch und Rang wie die Malerei, sie entstanden auch fast immer gleichzeitig mit den Bildern oder kurz nach ihnen. In Intermezzi werden geistesverwandte Werke von Zeitgenossen und Freunden wie Otto Meyer-Amden, Oskar Schlemmer, El Lissitzky, Fernand Léger, Picasso, Karl Otto Götz, Jackson Pollock zum aufschlussreichen Vergleich herangezogen, aber auch nachfolgende Künstler wie Philipp Guston und A. R. Penck sollen die Vorbildwirkung Baumeisters bezeugen.

Kaleidoskopisch, sprunghaft, vielfältig wirken die optischen Eindrücke auf den Betrachter: Mauerbilder, Figuren- und Maschinenbilder, Figurenzeichen der Vorgeschichte, auf dem Horizont der Gegenwart gedeutet, abstrakte Lebenszeichen - Ideogramme - , dann wieder Formverwandlungen zur Grundform des Organischen selbst, zur Urform des Vegetativen, zur Metamorphose im Zellgeschehen, Illustrationsfolgen als Parameter menschlichen Lebens, »Metaphysische Landschaften«, kalligraphische Zeichen für Wachstum und reliefhafte Bildfiguren, schließlich Bildmetamorphosen, die zu einer sehr persönlichen Deutung des Kosmos werden. Es gibt zwar einführende Texte, aber im Wesentlichen kann der Betrachter seine eigene Entdeckungsreise durch die Bilderwelt antreten. Im bunten und vielfältigen Nebeneinander der markanten Elemente erheischt jedes von ihnen besondere Aufmerksamkeit.

Baumeister suchte zunächst die durch Analyse linear reduzierten Teile der menschlichen Figur synthetisch in einen neuen Bildorganismus zu überführen. Als Formstücke werden sie zu konstruktiven geometrischen Bildelementen zusammengefügt: die Menschengestalt als Maschinengestalt (»Bild T 21«, 1922). Auch der »Apoll« von 1922 variiert die Gestalt des Apoll von Belvedere in einer normierten geometrischen Figur. Mit der Hinwendung zu gesteigerter Körperbewegung - im Thema des Läufers, Springers, Fußballspielers und Tänzers - wird dann das kühle Strichbild durch die atmende Bewegtheit der Figurenkonturen abgelöst. Zugleich entwickelte der Künstler ein besonderes Verhältnis zur Oberflächenstruktur, indem er durch Beimischungen von Sand und Farbe in seinen »Mauerbildern« den Gegensatz von rauer und glatter Oberfläche zu leichter Reliefwirkung und damit auch zu einem Elementarkontrast steigerte. Die Figur, das Zeichen, bleibt in den Zusammenhang tastbarer Materie eingebunden - statisch, bewegt, als zeichenhaftes Kürzel oder zur Landschaft amalgamiert - und löst sich doch als ein Geistiges aus ihr heraus.

Seine Erkenntnis von Ethnologie und Prähistorie, seine Beschäftigung mit den versunkenen Kulturen und deren Sprache und Schrift führten Baumeister auf die vorgeschichtlichen Spuren im Menschen. Es waren die unbekannten Botschaften aus jenen tief gelagerten Schichten kollektiven menschlichen Bewusstseins, die er hervorzuholen und durch die hieroglyphische Verfremdung für die Gegenwart neu zu evozieren vermochte. Eidosbilder nannte er eine Bildergruppe, von denen die frühen fast wie Vexierbilder wirken, indem sie den Ausgangspunkt der sich bewegenden menschlichen Figur noch erkennen lassen und diese allmählich auf die protoplasmatische Urform reduzieren. Wie Spurentierchen unter dem Mikroskop bewegen sich schwimmend die Elemente, und doch von ferne immer wieder an menschliche Bildungen erinnernd.

In der NS-Zeit, als »entartet« verfemt, mit Mal- und Ausstellungsverbot belegt, in »innerer Emigration« lebend, entstand der über 500 Blätter umfassende Komplex an Einzelzeichnungen und Illustrationsfolgen, die in ihrer inhaltlichen Konsequenz und stilistischen Vielfalt einzigartig sind. In der Ausstellung können nur einige Einzelblätter gezeigt werden. Aus dem Durchreibeverfahren mit Holzmaserungen, Stoffen und geriefeltem Glas auf farbigem Papier resultiert die diffuse Magie, die aus den Blättern des Gilgamesch-Zyklus hervorgeht. Baumeisters Spiel mit dem schemenhaften Hervortauchen dieser Bilder-Schriften aus einer gleichsam anonymen Bewußtseinsschicht musste die Frottage als indirektes Medium im höchsten Maß entgegenkommen. Die ungemein poetische Metaphorik des »Gilgamesch«, des ältesten Epos der Menschheit, wird bei ihm zur abstrakten, zeichenhaften Bildidee reduziert und gleichzeitig mit gegenständlichen Ahnungen sowie einem Fundus erzählerischer Assoziationen aufgeladen.

Aus der Vereinsamkeit während der Nazi-Zeit wurde nach 1945 ein Hinaustragen seines Bilderkosmos in die Welt. Keiner hat die deutsch-französischen Kunstbeziehungen im 20. Jahrhundert so nachhaltig geprägt wie Baumeister, er wurde nun ein internationaler Vorzeigekünstler, der in Paris, Sao Paulo und Venedig ausstellte. Schwarze Magie und kosmische Sphären kommen in den Collagen seiner Montaru-Reihe der 1950er Jahre zusammen - die Komposition scheint im Bildraum zu schweben, die Fläche entfaltet einen Tiefensog und zieht das Auge in einen unendlichen Raum hinein. In den letzten Bilderfindungen wurden die Todesfarben Schwarz und Weiß zu Zeichen für das Lebensende des Künstlers, den man auch den »deutschen Picasso« genannt hat.

Eine wunderbare Ausstellung, die den geschärften Blick wie das Nachdenken über die Herkunft und den Gestaltwandel des Menschen gleichermaßen anregt.

Willi Baumeister. Der Zeichner. Figur und Abstraktion in der Kunst auf Papier. Kupferstichkabinett - Staatliche Museen zu Berlin, Kulturforum, Die - Fr 10 - 18 Uhr, Sa/So 11- 18 Uhr, bis 8. April. Katalog (Wienand Verlag Köln) 34 Euro.

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