Tabletten an Heimkindern getestet
Niedersachsen: Eine Dissertation belegt Ungeheuerlichkeiten im Wunstorf der 1970er Jahre
Sie waren wehrlos wie Versuchskaninchen: Heimkinder in der Psychiatrie. Für einige Mediziner in Niedersachsen waren solche Mädchen und Jungen in den 1960er und 1970er Jahren offensichtlich die idealen Versuchsobjekte. Sie mussten schlucken, was ihnen die Ärzte verordneten und hatten auch Untersuchungen zu erdulden, die in vielen Fällen vermutlich nicht erforderlich waren.
Ort des Geschehens war das seinerzeit landeseigene psychiatrische Krankenhaus in Wunstorf, einer westlich von Hannover gelegenen Stadt. Geleitet worden war die Kinderpsychiatrie der Klinik bis 1964 von Professor Hans Heinze, der während der Hitlerdiktatur im Rahmen des NS-Euthanasieprogramms als Gutachter mit darüber zu entscheiden hatte, ob geistig und körperlich schwer behinderte Kindern in »Fachabteilungen« spezieller Krankenhäuser kamen. Dort wurde der größte Teil der Kinder getötet.
Schon während Heinzes 1954 begonnener Dienstzeit in Wunstorf waren dort Heimkinder ohne ihr Wissen als Versuchsobjekte für Arzneimittelstudien missbraucht worden. Eine Praxis, die bis in die 1970er Jahre anhielt, wie die Dissertation der Pharmakologin Sylvia Wagner aus Krefeld belegt. Ihre Arbeit und Recherchen des NDR brachten die Sache jetzt an die Öffentlichkeit.
Dass die Medikamentenversuche stattfanden, belegen unter anderem wissenschaftliche Studien, die Ärzte zu den Ergebnissen der Test verfasst hatten. Erprobt an mehreren hundert Kindern wurden Schlaftabletten, Psychopharmaka und auch ein Mittel zur Behandlung Demenzkranker. Auch Arznei, die noch gar nicht zugelassen war, trichterten Ärzte den Mädchen und Jungen ein, um Erkenntnisse über Nebenwirkungen zu gewinnen. Bereits gebräuchliche Medikamente mussten die Kinder ebenfalls schlucken. Die Mediziner wollten an den Reaktionen ihrer Opfer erforschen, ob man die jeweilige Arznei auch über das bereits bekannte Anwendungsspektrum hinaus einsetzen kann.
Doch nicht nur unter diesen Menschenversuchen litten die Kinder. Auffällig oft, so ergaben Recherchen, sollen die jungen Patienten der seit den 1970er Jahren nicht mehr üblichen Pneumoenzephalografie unterzogen worden sein. Bei dieser peinigenden Prozedur wird eine Hohlnadel zwischen zwei Wirbel gestochen und Rückenmarkflüssigkeit abgelassen. Sodann wird durch die Nadel Luft ins Gehirn gepumpt, um von ihm kontrastreiche Röntgenaufnahmen fertigen zu können. Mittlerweile hat die Computertomografie diese Quälerei abgelöst, die tagelang heftige Kopfschmerzen und Erbrechen zur Folge hatte. Es ist zu vermuten, dass die sogenannte Luftkopf-Methode in Wunstorf in vielen Fällen nur aus »Forschungs«-Motiven eingesetzt wurde.
Offen ist, inwieweit das Sozialministerium seinerzeit die »Forschungen« geduldet, womöglich sogar gefördert hat. Hintergrund dieser Frage ist die Tatsache, dass ein Arzt, der in Wunstorf für die Versuche mitverantwortlich war, später in jenes Ministerium wechselte. In leitender Position war er dort für die Aufsicht über die Landeskrankenhäuser zuständig - und zu diesen gehörte auch die Kinder- und Jugendpsychiatrie Wunstorf.
Auf der politischen Ebene haben die bisherigen Erkenntnisse zu den Versuchen Entsetzen ausgelöst. Die Opposition, FDP und Grüne, fordern eine lückenlose Aufklärung des Geschehens. Das will auch das niedersächsische Sozialministerium. Es hat ein unabhängiges Institut mit der Klärung aller offenen Fragen in punkto Wunstorf beauftragt.
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