Helden der Umkehrhaltung
Luftakrobaten, schwärende Wunden und Adler im Sturzflug: Georg Baselitz wird 80
Kopf runter, Füße hoch! Seit 1969, als er das Porträt seiner Frau Elke um 180 Grad gedreht an die Wand hing, ist der kopfüber dargestellte Mensch das künstlerische Erkennungszeichen von Georg Baselitz. Hunderte Gesichter, Halb- und Ganzkörperfiguren hat er so in schwerelose Bildräume hinabhängen lassen. Am Dienstag feiert der Maler und Bildhauer 80. Geburtstag.
Eigentlich heißt Baselitz Hans-Georg Kern, stammt aus dem sächsischen Deutschbaselitz (daher der Künstlername) und siedelte 1958 nach Westberlin um. Im internationalen Auktionspreisranking sind seine Arbeiten nach Gerhard Richter das Zweitteuerste, was die deutsche Gegenwartskunst zu bieten hat.
Doch wie so oft, wenn sich ein Motiv zur begehrten Marke verfestigt, geht viel von dem, was hinter der ursprünglichen Idee steckt, in den Schlagworten und Klischees verloren. Längst steht für Lobredner wie für Kritiker (von beidem hat er reichlich) fest: Baselitz ist der Verkehrtherum-Maler, Punkt! Dabei ist seine Masche so simpel nicht. In der Kunstgeschichte war die Figur, die mit dem Kopf nach unten weist, meistens der Leidende. Man denke an die Kreuzigung Petri bei Rubens, an den geschändeten Marsyas von Tizian oder all die Verdammten, die mit dem Haupt voran in den Höllenschlünden des Weltgerichts verschwinden.
Baselitz’ Figuren dagegen nehmen den eigenen Absturz auffällig gelassen hin. Oft hängen die Arme locker neben dem Körper herab wie bei einem ganz normal Stehenden. Daher rührt der Eindruck der aufgehobenen Gravitationskraft. Zwar zeigt der Künstler seine Luftakrobaten in der Position der kopfüber Aufgehängten und Gemarterten, er verzichtet aber auf jedes andere Zeichen von Gewalt, auf Folterknechte und Marterhölzer.
Dennoch, das Pathos erlittener Grausamkeit ist in Baselitz’ Werken zumindest in den Anfängen mitgedacht. Das belegt sein fulminanter Jugendzyklus der »Helden« von 1965. Eine geschlagene Armee, deren hoch gewachsene Soldaten sich durch ein trostloses Land schleppen. Ausgerechnet ein rotziger 27-Jähriger, der ein paar Jahre zuvor wegen »gesellschaftspolitischer Unreife« in Ostberlin von der Akademie geflogen war, malte da, am Vorabend der Studentenproteste, jene Bilder, die Westdeutschland eigentlich schon eineinhalb Jahrzehnte zuvor gebraucht hätte. Eingeständnisse des Kaputtseins, grob im Pinselduktus, aber erkennbar figürlich. Genau das, was die informelle Generation der späten 1940er und 50er Jahre mit ihren abstrakten Klagegesängen vermieden hatte, um nicht unter sozialistisch-realistischen Ideologieverdacht zu geraten.
Den direkten Zeitbezug meidet auch Baselitz. Ob die zerschlissenen Kämpfernaturen Opfer oder Täter sind, bleibt zweideutig. Ihre Uniformen tragen keine Abzeichen, ihr Inkarnat ist schmutzig rosa. An diese Malerei schwärender Wunden musste sich das Museumspublikum der Bonner Republik erst wieder gewöhnen.
Schon in den »Helden«, wenngleich sie noch mit den Füßen auf dem Boden stehen, verdreht Baselitz also die Werte einer nur vermeintlich fest gefügten Welt: Die martialischen Hünen sind arme Würstchen. Wie jener Kobold aus einem anderen Frühwerk, dessen erigiertes Glied 1964 die Staatsanwaltschaft auf den Plan rief und für Schlagzeilen im Boulevard sorgte. Dass der West-Berliner Galerist Michael Werner den Auftritt der Ordnungshüter geradezu herbeiinszeniert hatte, kam erst viel später heraus. Auf mediale Paukenschläge aber verzichtet Baselitz bis heute nicht. Zuletzt versprühte er im »Spiegel« geschlechterpolitisches Reizgas (»Frauen malen nicht so gut«) oder polterte gegen das neue Kulturschutzgesetz.
All diese Irritationen entspringen demselben Prinzip: Auf Teufel komm raus nach anderen Perspektiven suchen! Allerdings verstören die Kopfstehbilder nicht mehr moralisch oder gesellschaftlich, sondern formal. Trotzdem spürt der Betrachter die Auswirkungen ganz unmittelbar. Immer wieder verdrehen Museumsbesucher vor Baselitz’ Arbeiten den Kopf, als glaubten sie, ihnen entginge sonst etwas.
Mit den Falschrum-Porträts begann der Aufstieg zum Weltstar. Baselitz besaß nun ein Erkennungszeichen. Und Anschlussfähigkeit an die Sprache der internationalen Avantgarde. Denn der Tausch der üblichen Bildhierarchien überträgt das befreite Allover der abstrakten Expressionisten in die gegenständliche Malerei. Auch Jackson Pollock scherte sich nicht mehr um die Kategorien von oben und unten, wenn er, wie Baselitz, die Leinwände beim Arbeiten auf den Boden legte.
Obschon primär Gestaltenmaler, erweiterte Baselitz die Ästhetik der Umkehrhaltung bald auf tote Bäume und Tiere. Am bekanntesten: die Bundesadler im Sturzflug. Dass sich Ex-Kanzler Gerhard Schröder (wohl als Verweis auf seine 68er-Wurzeln) einen der zerrupften Wappenvögel ins Arbeitszimmer hängen ließen, bedeutete für Baselitz den endgültigen Ritterschlag. Seine rebellische Genialität hatte da aber bereits den Zenit überschritten. Mit Studien alter Meister und dem Versuch, in der »Remix«-Serie die eigenen Anfänge zu recyceln, rennt sein Alterswerk nur noch gegen eine einzige Konvention an: den Zwang, als Künstler immer Neues hervorbringen zu müssen.
Bleibt zum Schluss noch zu ergänzen, dass Baselitz seit den späten 70er Jahren auch ein umfangreiches skulpturales Œuvre geschaffen hat. Die hölzernen Körperkolosse, von Axthieben durchfurcht und mit Farben eher besudelt als bemalt, rehabilitierten, noch vor Stephan Balkenhol, das Figürliche auch in der Bildhauerei. Dazu mussten sie, anders als die Gemälde, nicht einmal Kopfstände machen.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.