Vorsicht vor Volksphantasie?

Ein Buch von Georg Baselitz und Alexander Kluge: «Weltverändernder Zorn»

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 6 Min.

Der Zorn wütete, er zerschlug, er lehrte das Fürchten; er gab sich, seit Homer mit ihm die «Ilias» eröffnete, schillernde Namen. Der vielleicht schillerndste: Revolution. «Aber was letztlich zur Welt kam, war nicht der neue Gott, sondern eine kriminelle Fehlgeburt; zu allem Überfluss erweist sich das große Geld als revolutionärer denn alle, die glaubten, sie besäßen den Schlüssel zu dessen Kritik.» Das schrieb Peter Sloterdijk im Jahre 1994, Jahre später verfasste er mit «Zorn und Zeit» ein fulminantes Buch über die Geschichte der Empörungen - ein Porträt auch der Moderne, also: des großen Abebbens, der giftigen Mäßigung, des lähmenden Einschwenkens in die zivile Verträglichkeit. Eine Weltgeschichte des stirnbietenden Menschen, der - zunächst - Zorn und bessere Welt zusammendenken konnte. Bis sich Sinn und Kraft und Aura des sozialen Aufbegehrens so elend zerrieben - zuletzt in den Entdemokratisierungs-Exzessen des 20. Jahrhunderts, nun in den Ermüdungs- und Gleichgültigkeitsschüben einer egozentrischen Welt aus lauter lauten Freiheiten, aber so wenig lauterer Freiheit.

Im Nachsatz zu seinem jüngsten Buch «Weltverändernder Zorn» beruft sich Alexander Kluge ausdrücklich auf Impulse durch Sloterdijks Theorie. Der Autor bietet ein Geschichtenmosaik des fatal und feurig, frivol und finster, folgenlos wie folgenreich Heldischen, das durch die Zeitläufte zürnt, und aus europäischer Historie leuchtet die Sammlung immer wieder hinüber zu unseren geografischen, historischen, poetischen Antipoden, also: zu den Legenden und Epen Japans. «Nachricht von den Gegenfüßlern» heißt das Buch im Untertitel. Gekoppelt ist das erzählerische Panorama mit Bildern von Georg Baselitz - Tusche und Aquarell, aus der Serie «Besuch von Hokusai» aus den Jahren 2015/16.

Das schriftstellerische Werk Kluges ist längst zu einem Strom aus unzähligen Quellen geworden. Von den Rändern aller Zeiten und Räume reißt diese Prosa kleine Reste Leben mit, verwickelt sie in Strudel, lässt sie auf dunkle Gründe sickern, und wo sie wieder auftauchen, scheinen die Partikel großer Geschichte plötzlich wie eine Botschaft vom fremdesten Planeten, den wir kennen: der Erde. Auch die Geschichten dieses Buches holen sich ihre Faszination aus der großen Gabe Kluges, individuelles, also geringes und verzweifelt befristetes Leben in größte, geradezu kosmische Dimensionen zu stellen. Für ihn ist es keine Schwierigkeit, zwischen den Jahrhunderten zu springen oder als Feldforscher in Kriegen und Alltagen herumzugeistern.

Zu lesen sind Grübeleien Adornos über Harakiri und Heideggers über Kamikaze. Brecht und Benjamin unterhalten sich über die «Staats- und Lebensverfassung der traurigen Leidenschaften» in nordischen Heldensagen, diese seien auch eine ideologische Schwäche der Hitlerei - «zwei antifaschistische Theoretiker brauchten Trost». Fabuliert wird über 19 Kennzeichen aller europäischen und vorderasiatischen Helden, «der Volksphantasie, der diese Kennzeichen entsprungen sind, ist nicht zu trauen. Das ist seit Trump beweisbar.» Mit dem Japan-Experten Joachim Kersten spricht Kluge über Neuschnee im Dezember, «das Symbol für die Reinheit des starken Willens, das Symbol des Weißen, das wiederkehrt bei den Kamikaze-Piloten, beim weißen Seidenschal, der Kirschblüte - das unendlich Vergängliche, das den Charakter ausmacht.»

Kluge, Jahrgang 1932, möchte eine literarische Form finden für den Assoziationsfilm, der seit Jahrtausenden unablässig in menschlichen Köpfen abläuft. Und der, wie im Traum, keine Rücksicht darauf nimmt, was als wahr oder nur als wirklich gilt. Deshalb ist es so schwer, diese Literatur zu beschreiben. In einer geradezu nervös ausgebreiteten Anekdotik zerspringt Historie in unzählige Trümmer, die vom Autor aufgefangen und in neue Bewegungsrichtungen gebracht werden. Das ist Umwandeln von Finden und Erfinden ins jeweils andere - Kluge vollführt das in frappierender Nüchternheit, als trete er als Gestalter völlig zurück. Die raffinierteste ästhetische Täuschung. Sein Wappen, so sagte er in einem Interview in der «Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung», sei die byzanthinische Weberin Arachne - die von Athene in eine Spinne verwandelt wurde, weil sie auf die bessere Künstlerin neidisch war. Arachne malte in die Kleider ihrer Kunden die gesamte Weltgeschichte ein. Ja, auch Kluge - spinnt; und dass etwas eintreten könnte, macht es kostbarer, als es tatsächlich gewesen sein wird.

Ob Adam und Eva oder Ödipus, ob Hadubrand oder Hildebrand, ob deutsche Eroberungsfeldzüge und deutsche Technikwunder - immer wieder gehen dem Universalisten Kluge Wissen und Märchensinn aus dem Europäischen hinüber ins Japanische. Wo es in den Heldentümern und bei der bewaffneten Zornproduktion nicht minder grausam, aber oft weit weiser zugeht. «Der Planet hat uns hervorgebracht, aber die Erde hat sich noch nicht abschließend entschieden, ob sie uns haben will.» So, schreibt Kluge, habe es Hokusai gesagt. Und nur unsere Illusionsfähigkeit schütze uns vor der Lähmung, die uns überfallen würde, sähen wir der grausamen Natur direkt in die Augen - es hülfen in Japan jene jäh wechselnden Winde, die rasche Wolken vor sich her trieben: «Von den kalten Sternen ist dann wenig zu sehen.»

Katsushika Hokusai (1760-1849), das ist der berühmte asiatische Diogenes, dessen malerisches und zeichnerisches Werk im 19. Jahrhundert unter europäischen Malern jene Japan-Manie auslöste, die jäh zum Verzicht aufs Perspektivische und zu geradezu hypnotischer Lust an der Farbfläche führte. Er ist in diesem Buch der Gewährsmann für die durchgehend spirituelle Welt der japanischen Fantasiewesen und Geister. Und des kritischen Blicks nach Europa, wo die Menschen so «gefesselt sind an ihre Absichten».

Jetzt muss von Georg Baselitz gesprochen werden. Der 1938 Geborene ist zum Maler zerrissener, verstörter, aufreizend aggressiver wie entblößter Helden geworden: «Ich bin in eine zerstörte Ordnung hineingeboren worden, in eine zerstörte Landschaft, in ein zerstörtes Volk, in eine zerstörte Gesellschaft. Ich war gezwungen, alles in Frage zu stellen, musste erneut ›naiv‹ neu anfangen.» Ein Anfang, der nie endete: Baselitz’ Bilder, die in Dialog mit Hokusai treten und das Buch mitprägen, bekräftigen die aufgerufene Naivität. Zerfließende, wasserspiegelflirrende Zeichnungen, Schreckensflecken, Chaosknäuel aus Pinselschwüngen, zerpunktete Körper, pochende Dissonanz, aber auch weiches helles luftiges Blau oder Rot, und immer wieder Porträts Hokusais: thronend, kniend, mit dem Finger weisend, wie es Lehrern eigen ist.

Das Buch fabuliert mit dem Gegenteil des Festlegbaren. Es ist daher wie eine Konditionierung: gegen Welt- und Lebensdeutungen, die im Reflexdienst jener deterministischen Geschichtsauffassung stehen, die an Logik, also Beherrschbarkeit von Weltprozessen glaubt. Kluges Geschichten und Anekdoten, polit-historische Miniaturen und mythische Gedankenspiele bewegen sich von Beschreibungen des keltischen Zorns bis hin zum modernen U-Boot-Krieg, von Achill bis zum Terroristen vom Berliner Breitscheidplatz, von Madame Butterfly bis Fukushima. Er sucht die Fäden, die Fernost und Nahwest, Nahost und Fernwest verbinden. Er tilgt die Entfernungen zwischen den Geschehnissen der Jahrhunderte, und der jetzige Zusammenhang erkennt seine Verwandten von früher.

Der Schriftsteller und der Maler zeigen «Glücksuche» als das, was nur dann Sinn erhält, wenn zum Allgemeinrausch auch das «Gegenglück» gefunden werden darf, das den Eigensinn steuert. Baselitz und Kluge finden sich in gemeinsamer Sinnlichkeit, finden sich «in der Aufforderung an Lesende und Schauende, »jede Form der Gleichgültigkeit aus dem Weg zu räumen«. Auch mit gebotenem Zorn. Der spricht im Buch, trotz aller Ermattungen, so: »Ich bin, ich war, ich werde sein.«

Georg Baselitz, Alexander Kluge: Weltverändernder Zorn - Nachricht von den Gegenfüßlern. Bibliothek Suhrkamp, 237 S., geb., 28 €.

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