• Politik
  • Repression in der Türkei

Entführung, Gewalt und Komplott

Türkische Polizei geht gegen Mitglieder der Sozialistischen Partei der Unterdrückten vor

  • Kevin Hoffmann
  • Lesedauer: 4 Min.

Sie sind wieder auf freiem Fuß, doch die Ermittlungsverfahren gegen sie laufen. Am 25. Januar wurden nach einer Woche Polizeihaft sechs türkische Sozialisten dem zuständigen Haftrichter vorgeführt. Dieser sah keine Gründe, eine U-Haft zu verhängen. Trotz der offensichtlich konstruierten Vorwürfe wurde das Verfahren jedoch nicht eingestellt.

In den frühen Morgenstunden des 18. Januar hatten Spezialeinheiten der Antiterrorabteilung der türkischen Polizei in verschiedenen Provinzen Wohnungen von Mitgliedern der Sozialistischen Partei der Unterdrückten (ESP) und der Föderation sozialistischer Jugendvereine (SGDF) gestürmt und sechs Menschen festgenommen. Unter ihnen befanden sich die Ankara-Vorsitzende der Partei, Didar Gül, sowie das Vorstandsmitglied Suat Corlu, der Ehemann der deutschen Journalistin Mesale Tolu, der erst vor wenigen Wochen aus der Monate andauernden Untersuchungshaft entlassen worden war. Ebenso wurde bei der Polizeioperation Can Tonbul vom Anwaltsbüro der Unterdrückten verhaftet. Keinem der Festgenommenen wurde der Grund für die Verhaftung mitgeteilt. Die zuständige Staatsanwaltschaft hatte dies unter Geheimhaltung stellen lassen. Die ESP ist seit Gründung Teil der pro-kurdischen Dachpartei HDP (Demokratische Partei der Völker). So war auch die ehemalige Ko-Vorsitzende der HDP Figen Yüksekdag zuvor Vorsitzende der ESP.

Laut Angaben der sozialistischen Nachrichtenagentur ETHA stellte sich später heraus, dass die Festnahmen auf eine Aussage der Familie des minderjährigen SGDF-Mitglieds Hasret K. aus dem vergangenen zurückging. Laut K. soll die Familie unter Gewaltandrohung der Polizei zu der Aussage gezwungen worden sein. Darin wurden die sechs Verhafteten beschuldigt, K. entführt zu haben. Die Betroffene bestätigte jedoch auf einer Pressekonferenz am 20. Januar, dass sie aufgrund von familiären Problemen nach Ankara gezogen sei und niemand sie dazu gezwungen habe.

Als K. erfuhr, dass die Verhaftung aufgrund der Aussage ihrer Eltern veranlasst worden war, machte sie sich unverzüglich auf den Weg zum Polizeipräsidium in Ankara, um diese Aussage zu entkräften und sich für die Freilassung der Aktivisten einzusetzen. Doch auf dem Weg dorthin wurde sie am 19. Januar von drei maskierten Personen in ein Auto gezerrt und wirklich entführt. Daraufhin sei sie mehr als zwei Stunden lang psychisch und physisch gefoltert worden, wie K. auf einer Pressekonferenz berichtete. Man habe sie zwingen wollen, fälschlicherweise gegen die Sozialisten auszusagen und ihre politische Arbeit in der Föderation sozialistischer Jugendvereine einzustellen: »Bei jedem Widerspruch meinerseits schlugen sie mir ins Gesicht, auf meine Nase und traten in meinen Bauch.«.

Auf ihre Frage, wer die vermummten Männer seien, sollen diese Geantwortet haben: »Nenn uns meinetwegen MIT, JITEM oder KGT. Wir sind der Staat!« MIT (Nationaler Nachrichtendienst) steht für den türkischen Geheimdienst. Die Namen JITEM (Geheimdienst und Terrorabwehr der Gendarmerie) und KGT (Organisation für öffentliche Sicherheit) stehen für Organe des »tiefen Staates«, die laut offiziellen Angaben der türkischen Regierung gar nicht existieren. Später soll K. in der Nähe ihrer Wohnung in Ankara wieder freigelassen worden sein.

Alp Altinörs, Mitglied des Parteivorstandes der ESP, betonte auf der Pressekonferenz am 20. Januar, dass solche Methoden des türkischen Staates nicht neu seien; früher seien sie nur unter dem Namen JITEM ausgeführt worden, heute unter dem Namen KGT. »Der Staat versucht mit illegalen Methoden gefälschte Beweise zu erzeugen und uns Sozialisten zu unterdrücken. Wir kennen diese Tätigkeiten gut. Sie werden uns nicht einschüchtern«, so Altinörs.

Am 23. Januar berichtete ETHA zudem, dass weitere Mitglieder und Familien der ESP von der Polizei massiv bedroht worden seien. So riefen Polizisten bei der Familie der Überlebenden des Suruc-Anschlags Tülin Gür an und bedrohten sie mit den Worten: »Nehmt eure Tochter aus der Partei, oder wir werden sie töten!« Serhat Demirtas, ebenfalls Mitglied der ESP, wurde am 20. Januar mit den Worten »Du wirst dein 19. Lebensjahr nicht erleben« sogar verhaftet. Bis vergangenen Dienstagabend war sein Aufenthaltsort unbekannt. Inzwischen wurde laut dem Anwaltsbüro EHB bekannt, dass er am Dienstag aufgrund seines Protest gegen den Krieg in Afrin in Untersuchungshaft genommen worden sei.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.