»Schön dreckig bleiben«

Der Performer Anders Carlsson reflektiert in »Checkpoint 16« seine Nahost-Erfahrungen

  • Tom Mustroph
  • Lesedauer: 4 Min.

Anders Carlsson ist ein freundlicher Mensch, als Künstler aber radikal. Furore machte der Schwede vor Jahren mit seiner Truppe »institutet« mit der Produktion »Conte d’Amour«, einer verstörenden Adaption der Geschichte des Josef Fritzl, der seine Tochter missbraucht hat. Zuvor hatte die Truppe in Schweden für einen Skandal gesorgt. »Die Stadt Malmö entzog uns die Förderung und schrieb das Theater, in dem wir gearbeitet hatten, neu aus. Das war der Grund, weshalb wir nach Berlin gingen«, erzählt Carlsson im nd-Gespräch.

Anlass war die Performance »The Rise and Fall of the Roman Empire«. Die antike Dekadenz hatten die Schweden in die Welt der SM-Szene übertragen. »Wir wollten damals im Sinne von Gilles Deleuze gegen die gängigen Identitäts- und Repräsentationsstrategien vorgehen, also gegen die Tendenz, sich einen imaginären Anderen zu suchen, dem man dann eine Stimme gibt. Deleuze hatte vorgeschlagen, sich nicht ödipal gegen die andere Meinung zu stellen, sondern das Monster zu nehmen, wie es ist und es größer zu machen. Wir nahmen die Leute aus der SM-Szene als Experten für Macht und Sexualität und ließen sie ihre Fantasien auf öffentlichen Plätzen ausleben«, erinnert sich Carlsson. Diese Monsteraufblähung war zu viel für Malmö.

Zuvor war Carlsson aber selbst der Versuchung erlegen, in der Stimme eines anderen zu sprechen. Darum geht es in »Checkpoint 16«. Carlsson reflektiert darin die Begegnung mit dem Palästinenser Fadi. Er traf ihn 2006 in den besetzten Gebieten der Westbank. »Wir wurden Freunde. Es war ein Verhältnis wie zwischen älterem und jüngerem Bruder«, sagt Carlsson. Er war der ältere Bruder und begleitete Fadi, damals 14, auf dessen Wegen. Er passierte mit ihm israelische Checkpoints und erlebte die Besatzermentalität der Soldaten. Größer als der Unterschied im Lebensalter stellte sich aber die Tatsache heraus, dass der eine »Bruder« einen EU-Pass besaß und Palästina verlassen konnte, der andere aber selbst bei seiner Arbeit als Pflanzenverkäufer allein auf seine Schlitzohrigkeit und die Gnade der israelischen Soldaten am Kontrollposten angewiesen war.

Carlsson machte diese Differenz in seinem ersten Stück 2007 zum Thema. Er verlieh damals auch der Wut von Fadi Ausdruck. »Er war empört, dass ich ihn nicht mitnehmen wollte. Und er drohte, wenn ich ohne ihn wegführe, würde er ›etwas machen‹«, berichtet Carlsson. Das ›etwas machen‹ war damals, zur Zeit der zweiten Intifada, leicht zu entschlüsseln. »In dem Camp, in dem Fadi seine Pflanzen verkaufte, waren die Wände voll mit Bildern von ›Märtyrern‹, jungen Burschen im Alter von 13 bis 15 Jahren, die Maschinengewehre trugen und als Attentäter gestorben waren«, beschreibt Carlsson den Kontext. Er ist sich aber auch sicher, dass Fadi nicht im Kontakt mit militanten Gruppen stand.

Der Schock, die Ernüchterung, die Überraschung - all das erfolgte zehn Jahre später, als Carlsson für die Vierte Welt eine Arbeit zu Künstlern in Krisengebieten vorbereitete und Kontakt zu Fadis Familie suchte. In all den Jahren dazwischen hatte es keinen Kontakt gegeben - auch, weil Carlsson das schlechte Gewissen plagte, Fadi nicht geholfen zu haben. »Er hat gewollt, dass ich ihn heraushole. Aber er war der älteste Sohn von insgesamt neun Kindern, der Einzige, der etwas Geld verdiente in der Familie. Und wie hätte er überhaupt Flüchtlingsstatus in Schweden erlangen können, wenn er legal ja nicht einmal zum schwedischen Konsulat in Jerusalem kommen kann?«, fragt Carlsson sich - und weiß zugleich, dass dies alles Ausflüchte sind zum Bemänteln der eigenen Inaktivität.

Zehn Jahre später also, im Zuge der neuen Arbeit, erfuhr er, dass Fadi im Gefängnis saß, verurteilt durch ein Militärgericht zu insgesamt elf Jahren Haft. Hat Carlssons Weggang Fadis Handlungen beeinflusst? »Genau um solche Fragen geht es. Welche Verantwortung haben wir, wenn wir agieren? Wir stecken in diesen Machtstrukturen drin. Wir beuten die aus, deren Geschichten wir erzählen. Das muss man problematisieren«, sagt Carlsson.

Einen Ausweg kennt Carlsson nicht. Ein »Handbuch für westliche Künstler in Krisengebieten« mit allen Ge- und Verboten könne er nicht schreiben, da dies erneut zu kategorisierend sei. Reflektieren müsse man die eigene Position in diesem kulturellen, politischen und letztlich ökonomischen Ausbeutungszusammenhang aber doch. Weiter handeln auch, selbst wenn man »dreckig wird«. Die Wut über diese Verstrickung müsse man aber auch deutlich machen. All das macht »Checkpoint 16« tatsächlich.

»Checkpoint 16«, am 2., 3. und 4. Februar, jeweils um 20 Uhr in der Vierten Welt, Adalbertstraße 4, Kreuzberg

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