Von Moskau nach Worpswede

Michael Baade erforschte den Lebensweg von Jan Vogeler

Der Börsenverein des Deutschen Buchhandels prämiert alljährlich »Die 50 schönsten Bücher« eines Jahrgangs. Dieses Buch sollte unbedingt in die diesjährige Vorschlagsliste aufgenommen werden. Angefangen vom rotbraun getönten Umschlag bis hin zu jeder einzelnen grafisch gestalteten Seite - verantwortlich dafür ist die Dresdner Grafikerin Eva-Maria Bartsch - bereitet es bereits Freude beim bloßen Blättern. Der Rostocker Schriftsteller Michael Baade, spätestens seit der Wende eng verbunden mit dem Weltdorf Worpswede und seiner Kunsttradition, dokumentiert Leben und Wirken von Jan Vogeler, Sohn des legendären Worpsweder Malers und Weltverbesserers Heinrich Vogeler. So wie der Lebensweg des Vaters vom gefeierten Meister des Jugendstils über den Pionier der Sowjetkunst bis zum Hungertod in der kasachischen Steppe wohl nur als tragische Parabel zu begreifen ist, spiegeln sich auch im Schicksal des Sohnes die Katastrophen der Epoche und alle Höhen und Tiefen in den deutsch-russischen Beziehungen. Anders als sein Vater lebte und wirkte Jan Vogeler nicht im Brennpunkt öffentlichen Interesses. Es ist darum ein besonderes Verdienst Michael Baades, aus dem Nachlass des im Januar 2005 verstorbenen Philosophen, aber auch aus schwer zugänglichen, bis vor kurzem noch geheimen Archivbeständen Dokumente ausfindig gemacht zu haben, die als exemplarisch für Jan Vogelers Wirken gelten können. Der 1923 in Moskau geborene Vogeler-Sohn - seine Mutter war Sonja Marchlewska, die Tochter des polnischen Revolutionärs und Lenin-Vertrauten Julian Marchlewski - wurde zu einer Schlüsselfigur im deutsch-sowjetischen Beziehungsgeflecht. Er besuchte zusammen mit Wolfgang Leonhard, Stefan Doernberg und Markus Wolf - deren Erinnerungen an die gemeinsame Schulzeit mit Jan zählen zu den wichtigsten Abschnitten in Michael Baades Buch - die Hochschule der Komintern, war an der Schlacht um die Befreiung Berlins im Frühjahr 1945 beteiligt und wurde später Philosophie-Professor an der Moskauer Lomonossow-Universität und an der Parteihochschule für die Ausbildung der kommunistischen Kader aus den nichtsozialistischen Ländern. Er war zuständig für die Schulung der DKP-Funktionäre aus Westdeutschland, aber auch für die Kontakte zu den bundesrepublikanischen Grünen und zur Friedensbewegung. Im Kreml galt er als Deutschlandexperte und wurde schließlich in das Beraterteam von Michail Gorbatschow berufen, das Vorschläge zur Umgestaltung der Beziehungen zu den beiden deutschen Staaten erarbeiten sollte. Nach dem Sturz Gorbatschows beschloss Jan Vogeler, tief enttäuscht, eine Einladung der väterlichen Großfamilie nach Worpswede anzunehmen. Er ging den umgekehrten Weg seines Vaters, von Moskau zurück zu seinen Wurzeln nach Worpswede, und verbrachte dort seine letzten Lebensjahre als Sozialhilfeempfänger. Michael Baade ist es gelungen, den Sohn aus dem Schatten seines Vaters herauszuholen und ihm ein eigenständiges Profil als Vermittler zwischen den Völkern und Systemen zu geben. Dennoch ist sein Buch auch für alle am Leben, Werk und Wirken Heinrich Vogelers Interessierten eine lohnende Lektüre. Am gewichtigsten sind ohne Frage neun zum größten Teil noch unveröffentlichte Briefe, die Heinrich Vogeler von seinen verschiedenen Reisestationen aus an seinen in Moskau gebliebenen Sohn geschickt hat. Michael Baade dokumentiert sie zusammen mit den farbigen Handzeichnungen, die den Brieftext ergänzen. Besonders ergreifend ist der letzte, von Todesahnungen geprägte Brief aus der kasachischen Hungersteppe vom Frühjahr 1942. Dazu kommen zahlreiche Fotos - eines zeigt Jan Vogeler zusammen mit Ulrike Meinhof 1962 in Moskau - und Wiedergaben aller Gemälde und Zeichnungen, auf denen Heinrich Vogeler seinen Sohn dargestellt hat. Die Worpsweder Vogeler-Familie sowie prominente Lebensgefährten konnten für die Mitarbeit am Buch gewonnen werden: aus dem Worpsweder Umfeld der Publizisten David Erlay, der Kunstsammler Wolfgang Kaufmann und der Schriftsteller Peter Schütt, aus der ehemaligen DDR die Kunsthistorikerin Christine Hoffmeister, der Theologie-Professor Heinrich Fink, der Historiker Stefan Doernberg und last not least Markus Wolf. Dessen zehnseitiger Beitrag »Erinnerungen an Jan« ist das letzte Manuskript, das der legendäre Spionagechef der DDR kurz vor seinem Tod am...

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