Müdes »Weiter so«
Linkspartei und Grüne kritisieren Koalitionsvertrag / DGB lobt Rentenplan / Forscher sieht Europa-Vorhaben positiv
Es war ein zähes Ringen, doch nach gut 24 Stunden verkündeten Union und SPD einen Durchbruch in den Koalitionsverhandlungen. Die Unterhändler einigten sich am Mittwochmorgen auf einen Koalitionsvertrag und die Verteilung der Ministerien. Es dauerte nicht lange, bis sich die ersten Kritiker zu Wort meldeten.
Die Linkspartei wies auf eklatante Lücken in den Plänen der Parteien hin: »Statt engagiertem Kampf gegen Armut herrscht bei Schwarz-Rot soziale Ignoranz gegenüber den Ärmsten vor«, erklärten die Parteivorsitzenden Katja Kipping und Bernd Riexinger in einer gemeinsamen Stellungnahme.
Vor allem die Verhandlungsergebnisse der Sozialdemokraten standen im Fokus: »Bei der SPD-Delegation haben sich offensichtlich diejenigen durchgesetzt, denen die Millionen Hartz-IV-Betroffenen in diesem Lande egal sind.« So seien weder Abmilderungen bei Sanktionen noch eine Erhöhung des Regelsatzes vorgesehen. »Angesichts der Milliardenüberschüsse sind die konkreten Verhandlungsergebnisse Ausdruck sozialer Kälte«, erklärten Kipping und Riexinger.
Auch die Linkspartei-Fraktionsvorsitzenden Sahra Wagenknecht und Dietmar Bartsch übten scharfe Kritik an den Verhandlungsergebnissen. »In Anlehnung an Kurt Tucholsky könnte man sagen, dass es ein Irrtum ist, dass die Regierung Probleme löst. Stattdessen werden die großen Probleme von einer gelangweilten Koalition liegen gelassen«, teilten die beiden Politiker mit. Der Koalitionsvertrag würde die Weichen lediglich auf ein »Weiter so« stellen, ohne sich den wirklichen Herausforderungen zu stellen. »Eine wachsende soziale Ungleichheit, Ausbreitung von Alters- und Kinderarmut, Verschärfung des Wohnungs- und Pflegenotstands werden die Folge sein.«
Die Bundestagsabgeordnete der Linkspartei, Martina Renner, wies via Twitter auf ein weiteres Problem hin: »Null Antworten auf und null Erwähnungen von Neonazi-Terror, Rechtsextremismus und Rassismus. Rassistischer und rechter Terror sind kein Minderheitenproblem, sondern ein Angriff auf uns alle.«
Unzufrieden zeigten sich auch Politiker von Bündnis90/Die Grünen. »Kompromisse sind nicht einfach, ich weiß CDU und SPD, aber der Klima-Nicht-Teil ist ein Desaster. Ein schrittweiser Kohleausstieg ist überfällig«, erklärte die Kovorsitzende Annalena Baerbock. Die Politikerin wies zudem auf Leerstellen in der geplanten Sozialpolitik hin. »Die versteckte Kinderarmut zementiert ganze Lebenswege«, so Baerbock. »Um Kinder wirklich aus der Armut zu holen, brauchen wir eine Kindergrundsicherung. Die GroKo springt zu kurz.«
Auch unter Sozialdemokraten gab es Stimmen, die das Verhandlungsergebnis infrage stellten. Juso-Chef Kevin Kühnert äußerte sich nach Bekanntwerden der SPD-Personalpläne: »NoGroko bedeutet nicht nur die Ablehnung eines Koalitionsvertrags (über den plötzlich niemand mehr spricht)«, schrieb er. »NoGroko bedeutet auch die Absage an den politischen Stil, der heute aufgeführt wird.«
Der Sozialforscher Gerhard Bosch wies indes darauf hin, dass im Europakapitel der Vereinbarung ein hoher Anspruch formuliert sei. Künftig soll der Grundsatz »gleiche Bezahlung für gleiche Arbeit am gleichen Ort« gelten. Jetzt müsse die Regierung in dieser Frage auch liefern, »sonst ist das Papier nichts wert«, sagte der Professor an der Uni Duisburg-Essen dem »nd«. Erstmals gebe es in Sachen soziales Europa ein paar »kleine Hoffnungsschimmer«, nachdem sich die deutsche Regierung in den vergangenen Jahren mitschuldig gemacht habe an der »Zerstörung des europäischen Sozialmodells«.
Auch beim Thema Pflege ist Bosch gespannt, ob eine mögliche Große Koalition ihr Versprechen hält. Vereinbart wurde, dass Tarifverträge in der Pflege für allgemeinverbindlich erklärt werden. Dies umzusetzen, sei aber gar nicht so einfach, betont der Forscher. »Wenn das gelingt, hat sich die Koalition gelohnt.« Denn dies könne ein Signal sein für eine faire Bezahlung sozialer Berufe.
Enttäuschend sei, dass die Verhandler an den Pfeilern der Sparpolitik nichts geändert hätten. So soll es keine staatliche Nettoverschuldung geben. Immerhin wollten Union und SPD die Überschüsse teilweise für Investitionen nutzen, etwa in den Breitband-Ausbau und Wohnungsbau.
Eine mehrheitlich positive Bewertung des Koalitionsvertrages gab es dagegen vom Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB). Das Rückkehrrecht von Teilzeit in Vollzeit sei überfällig gewesen, erklärte DGB-Chef Reiner Hoffmann. Der DGB begrüßte auch »die Beschlüsse zu mehr Investitionen in Bildung, in den Wohnungsbau, und in nachhaltigen Verkehr und Mobilität«. Die geplante Stabilisierung des Rentenniveaus sei »absolut positiv«. »Auch in der Rente hat sich die Union, die im Wahlkampf jegliches Gespräch über Altersarmut verweigert hatte, bewegt«, hob Hoffmann hervor. Im Bereich der Arbeitspolitik sprach der Gewerkschaftsbund ebenfalls von einer wichtigen strukturellen Verbesserung, obwohl die sachgrundlose Befristung nicht abgeschafft worden sei. Die Gewerkschaften kritisierten allerdings, dass die prekäre Beschäftigung nicht bekämpft, sondern ausgeweitet werde.
Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag DIHK erklärte: Positiv seien die geplanten Investitionen in eine bessere Bildung und Digitalisierung. Ein großer Schwachpunkt sei hingegen der Verzicht auf Steuerentlastungen für Unternehmen.
Der AfD-Vorsitzende Alexander Gauland griff die Verhandlungsergebnisse von einer anderen Seite an. »Die Ressortaufteilung zeigt, dass sich die CDU aus Angst vor dem Mitgliederentscheid der SPD völlig aufgegeben hat. Sie entleert sich ideologisch«, sagte der Chef der Rechtsaußenpartei.
Die Türkei erwartet derweil eine Verbesserung der Beziehungen zu Deutschland. »Wir wollen, dass die jüngste Entspannung weitergeht. Wir erwarten, dass die neue Koalition, die gerade gebildet wird, dazu beiträgt«, sagte der Präsidentensprecher Ibrahim Kalin. Mit Agenturen
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