Erst war’s ein Drama, dann kam die Freude

Bis in die Verlängerung des Finales hielt das deutsche Eishockeyteam Russland in Schach - ehe das 3:4 fiel

  • Thomas Lipinksi und Thomas Nowag, Pyeongchang
  • Lesedauer: 4 Min.

Als die Russen ihnen brutal das Gold vom Silbertablett rissen, brach für die Eishockeyhelden von Pyeongchang eine Welt zusammen. »Wir waren drei Minuten Olympiasieger«, sagte der Kölner Verteidiger Moritz Müller in der ersten Enttäuschung. Bis 55,5 Sekunden vor Schluss hatte die grandios aufspielende deutsche Nationalmannschaft im Finalthriller gegen den Rekordweltmeister mit 3:2 geführt, die größte Sensation in der Eishockeygeschichte lag in der Luft.

Eine Dreiviertelstunde später, mit Silber um den Hals, siegte trotz des 3:4 (0:1, 1:0, 2:2, 0:1) nach Verlängerung der Stolz über den Schock. »Auf dem Bild, auf das wir unser Leben lang schauen werden, wollte ich nicht mit irgendeiner Grimasse stehen, sondern mit einem Lachen im Gesicht«, sagte Torjäger Patrick Reimer aus Nürnberg nach der Siegerehrung für eine historische Leistung. »Meine Spieler und ich werden diese Tage niemals vergessen. Solch ein Spiel gibt es nur einmal im Leben«, ergänzte Bundestrainer Marco Sturm.

Nach dem Tor des Berliners Jonas Müller (57.) zur 3:2-Führung waren Gold und das Wunder von Pyeongchang zum Greifen nahe. Doch Nikita Gusew (60.) erzwang in Unterzahl die Verlängerung, in der Kirill Kaprisow nach 9:40 Minuten die deutschen Himmelsstürmer von Wolke sieben holte - Reimer saß auf der Strafbank. Es war ein Drama, manchen Spieler erinnerte es an die Traumfabrik Hollywood. »Vielleicht möchte das ja irgendjemand dort verfilmen«, sagte der erneut überragende Münchner Torhüter Danny aus den Birken: »Dann hoffe ich nur, dass mich nicht Brad Pitt spielt.«

Filmreif war der sensationelle Sturmlauf des krassen Außenseiters bis ins Endspiel auf alle Fälle. »Wir hätten nie damit gerechnet, hier das Finale zu erreichen«, sagte Bundestrainer Sturm. »Normalerweise sitzen wir zu Hause und gucken das vor dem Fernseher. Aber wir sind hier!«

Nach dem 4:3 gegen Weltmeister Schweden im Viertelfinale und dem 4:3 gegen den Rekord-Olympiasieger Kanada im Halbfinale hatte seine Mannschaft bereits vor dem Finale die Legenden der Vergangenheit, die 1932 und 1976 jeweils Bronze gewonnen hatten, übertroffen. Im Endspiel geriet sie eine halbe Sekunde vor der ersten Drittelsirene durch Slawa Wojnow (20.) und im Schlussabschnitt durch Gusew (54.) zweimal in Rückstand - doch zweimal meldete sich das kämpferisch und spielerisch überzeugende deutsche Team mit dem Ausgleich zurück: durch den Kölner Felix Schütz (30.) zum 1:1 und den Münchner Dominik Kahun nur zehn Sekunden nach dem 1:2 (54.) zum 2:2-Ausgleich. »Am Ende überwiegt der Stolz«, sagte der Kölner Christian Ehrhoff, der vier Stunden später im Lichterzauber der Schlussfeier im Olympiastadion die deutsche Fahne schwenkte.

Nach dem Finale zogen sie weiter ins Deutsche Haus, um den letzten Rest der Enttäuschung wegzuspülen. »Da lassen wir noch mal richtig die Sau raus«, kündigte Reimer eine Party ohne Rücksicht auf Verluste an. »Wir reisen ab, deswegen interessiert es uns nicht mehr.«

Direkt vom Zapfhahn geht es am Montagmorgen zum Flughafen und zurück in die Heimat, in der die Nationalspieler mit ihren historischen Siegen eine Begeisterung auslösten, die zum Boom werden soll. »Sie haben ein ganzes Land elektrisiert - vom Jüngsten bis zum Ältesten«, sagte DEB-Präsident Franz Reindl.

Mehr als fünf Millionen hatten schon beim Halbfinale vor dem Fernseher gesessen, zum Endspiel schalteten mehrere Millionen sogar morgens um fünf ein. »Wir sind alle Fußballfans«, sagte Moritz Müller, »aber doch der Meinung, dass Platz für mehr als eine Sportart in Deutschland ist. Ich hoffe, dass es Signalwirkung hat und die Eltern ihre Kinder zum Eishockey schicken.«

Für Deutschlands Jahrhundertspieler Erich Kühnhackl, der zum Bronzeteam von 1976 in Innsbruck gehörte, ist das Olympiasilber gar nicht hoch genug einzuschätzen. »Jedes Superlativ kann man hernehmen, es ist berechtigt. Unglaublich«, schwärmte der 67-Jährige. »Wir hatten im Eishockey immer in vielen Dingen Nachholbedarf. Ich finde es einfach toll, dass es positive Dinge gibt, über die man redet.«

Nun aber ruft der Alltag: Denn nach dem Sensationserfolg geht es in dieser Woche in die letzten drei Spiele der Hauptrunde der Deutschen Eishockey-Liga (DEL), darunter am Mittwoch das Duell des Rekordmeisters und Hauptrundendritten Eisbären Berlin gegen den Titelverteidiger und Hauptrundenersten EHC Red Bull München. Die sieben Münchner Nationalspieler haben inzwischen von ihrem Verein signalisiert bekommen, dass sie für zwei Spieltage frei erhalten und erst am Sonntag zum Hauptrundenabschluss aufs Eis müssen. Auch Patrick Reimer vom Hauptrundenzweiten Nürnberg Ice Tigers hofft auf eine Spielpause: »Wenn wir die hinter uns haben, dann fokussieren wir uns wieder auf die Liga.«

Von den Eisbären Berlin stand ein Trio mit den Verteidigern Jonas Müller und Frank Hördler sowie Stürmer Marcel Noebels auf dem Olympiaeis. Egal, ob sie am Mittwoch pausieren oder nicht: Sie werden so oder so in der heimischen Arena sein und von den Fans stürmisch gefeiert werden. SID/nd

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.