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Von Pest, Cholera und dem Weiterleben
Das Ende des SPD-Mitgliederentscheids naht - und damit auch die Frage nach dem Danach
Wahrscheinlich ist es kein Zufall, dass von den drei Männern und der einen Frau, die da auf dem Podium, leicht erhöht über dem Publikum sitzen, ausgerechnet Kevin Kühnert vor dem roten, schmalen Aufsteller sitzt, der eine Hand zeigt, die eine Nelke hält - dem Symbol der Jungsozialisten, die besser unter ihrem Kürzel »Jusos« bekannt sind. Denn wie kaum ein anderer Juso-Bundesvorsitzender vor ihm hat es Kühnert in den vergangenen Wochen geschafft, sich innerhalb kürzester Zeit bundesweit bekannt zu machen. Und den Jusos gleichzeitig eine Bedeutung zu geben, die sie wohl noch nie in der bundesdeutschen Geschichte hatten.
Freilich wird Kühnert, werden auch andere an diesem Sonntag in Erfurt erklären, der Widerstand gegen eine Neuauflage der Großen Koalition sei nichts, was ausschließlich vom SPD-Nachwuchs ausgehe. Auch viele andere Genossen, die längst dem Juso-Alter entwachsen sind, seien ebenso kritisch, wenn es um ein neues Bündnis von CDU, CSU und SPD gehe. Was zweifellos auch stimmt. Und trotzdem trägt keine andere Gruppe innerhalb des sozialdemokratischen Universums den Widerstand gegen eine neue GroKo so entschieden, wie die Jusos es tun. Unter ihnen wiederum eben niemand so bundesweit beachtet wie Kühnert.
Was im Umkehrschluss auch meint: Ob Deutschland etwa ein halbes Jahr nach der Bundestagswahl vom September 2017 nun bald eine stabile Regierung bekommt, könnte maßgeblich an ihm und den Jusos liegen. Denn immerhin gibt es noch Genossen unter den etwa 463 000 SPD-Mitglieder, die noch nicht wissen, ob sie bei der laufenden Mitgliederbefragung nun für oder gegen eine neue GroKo stimmen sollen. Weil, wie es die designierte SPD-Bundesvorsitzende Andrea Nahles einen Tag vor dieser Diskussion in der thüringischen Landeshauptstadt am Rande eines bemerkenswert nicht-öffentlichen Termins in Jena formuliert, eine neue Zusammenarbeit mit der Union für die Sozialdemokraten sowohl Chancen als auch Risiken birgt.
Viel Zeit, sich zu entscheiden, haben die noch unentschlossenen Genossen allerdings nicht mehr; immerhin will die Partei schon am nächsten Sonntag bekanntgeben, wie die Mitgliederbefragung ausgegangen ist. Was wiederum vielleicht auch erklärt, warum die Diskussion in Erfurt mit dem erhöhten Podium und dem Nelkenaufsteller so gut besucht ist, dass längst nicht alle der etwa 200 Besucher einen Sitzplatz in dem dafür gewählten Café finden. Chancen und Risiken wollen eben besonders gut abgewogen sein in einer Partei, deren Wahlergebnisse seit der Ära von Gerhard Schröder im Wesentlichen nur eine Richtung kennen: nach unten.
Dass Kühnert und mit ihm auch die Thüringer Landtagsabgeordnete und ehemalige Thüringer Jusos-Vorsitzende Diana Lehmann bei dieser Diskussion besonders viel Beifall dafür bekommen, dass sie anhand der bekannten Argumente gegen eine neue GroKo argumentieren, ist dabei der am wenigsten überraschende Fakt dieses Tages. Ebenso, dass der aus Erfurt stammende Bundestagsabgeordnete und Parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion Carsten Schneider - quasi im Umkehrschluss - nur spärlichen Applaus dafür erhält, dass er mit den beiden anderen auf dem Podium sitzend für eine neue GroKo wirbt. Dass Für und Wider eines weiteren Bündnisses zwischen den beiden, in ihrer Bedeutung stark reduzierten Volksparteien ist seit Monaten an nahezu jedem Stammtisch, in jeder Politik-Talksendung und in jeder Zeitungsanalyse besprochen worden.
Gegner einer neuen GroKo wollen die SPD in der Opposition erneuern, sorgen sich um die Glaubwürdigkeit der Partei, sollte sie nach allen Ankündigungen der Vergangenheit nun doch mit der Union koalieren - und sehen eine staatspolitische Verantwortung darin, die SPD für die Zukunft als starke, soziale Kraft in Deutschland zu erhalten. Man dürfe, sagt Kühnert deshalb ungefähr in der Mitte der Diskussion, in der Abwägung der Argumente für eine Regierungsbeteiligung der Sozialdemokraten im Bund doch nicht nur die nächsten drei oder vier Jahre im Blick haben. »Ich entscheide mich in meiner Abwägung für eine stärker mittel- und langfristige Perspektive.« Außerdem, hatte Lehmann da schon gesagt, sei der vorliegende Koalitionsvertrag doch gar nicht »gut genug« für die Ansprüche der SPD an ein modernes, soziales Land.
Die Befürworter einer neuen GroKo verweisen dagegen darauf, dass der ausgehandelte schwarz-rote Koalitionsvertrag durchaus eine sozialdemokratische Handschrift trägt. Dort stünden viele Dinge drin, die das Leben der Menschen besser machen könnten, sagt Schneider. Und dann seien da noch die Wähler, denen man kaum erklären könne, wenn die SPD sich nun einer Regierungsbeteiligung verweigere - weshalb es den Sozialdemokraten bei baldigen Neuwahlen noch schlechter ergehen werde als im September, als sie auf ein dramatisch schlechtes Ergebnis abgestürzt waren. Damals hatten sie einen Zweitstimmenanteil von nur noch etwa 20 Prozent erreicht. Es sei ein Fehler gewesen, sagt Schneider, dass nach diesem Ergebnis nicht die komplette Parteispitze geschlossen zurückgetreten sei - was bislang ungewohnt kritische Töne von ihm sind. Das, schiebt er hinterher, habe auch dazu beigetragen, dass die Situation so verfahren sei, wie sie heute nun mal ist.
Aber gerade weil die Lage der deutschen Sozialdemokraten so ist - Lehmann: »Beschissen!« -, ist ein Vorsatz umso bemerkenswerter, der sich durch diese Diskussion zieht. Nicht als Unterton. Sondern als ganz zentrales Thema in dem was die Jusos Kühnert und Lehmann, der etablierte Bundespolitiker Schneider und auch viele der Genossen im Café schon jetzt sagen: Dass es nämlich für die SPD gilt, mit dem Ergebnis vom nächsten Sonntag umzugehen. Und zwar für Befürworter und Gegner einer neuen GroKo gleichermaßen, die sich immer noch in der gleichen Partei wiederfinden werden, wenn endgültig klar sein wird, wie knapp die Entscheidung der Basis Dafür oder Dagegen ausgefallen sein wird.
Einer der Genossen im Raum sagt: »Wir haben jetzt die Wahl zwischen Pest und Cholera.« Doch egal, wofür man sich entscheide, die SPD müsse damit weiterleben. Entscheiden müsse man sich deshalb in jedem Fall aus Überzeugung für eine Variante. Nicht aus Angst vor der anderen.
Der NoGroKo-Mann Kühnert - der später am Sonntag noch in Lübeck gegen eine neue Große Koalition argumentieren will - plädiert deshalb ebenso wie der GroKo-Mann Schneider dafür, dass sich die SPD für die Zukunft die Diskussionskultur bewahren müsse, die sie in der Debatte um ein neues schwarz-rotes Bundesbündnis - oft, nicht immer - zeigt; und die sich in diesem Café tatsächlich erleben lässt: Kontrovers und leidenschaftlich in der Sache, aber doch so nüchtern, dass man ohne persönliche Angriffe auf Andersdenkende auskommt. Nur einmal schwadroniert ein SPD-Mann in Erfurt davon, dass die amtierende SPD-Parteiführung sich wie das ZK der SED 1989 aufführe; wofür er vom Moderator sofort ermahnt wird.
Überhaupt, sagt Kühnert, dürften die Genossen bei ihren Debatten um eine inhaltliche Erneuerung der Partei nicht immer nur den Vorstand kritisieren. »Erneuerung fängt ganz konkret bei uns vor Ort an.« Statt beispielsweise im Nachhinein über ein beschlossenes Wahlprogramm zu schimpfen, müsse es wieder viel intensivere Debatten um Wahlprogramme auf Parteitagen geben. Demokratischer Streit sei doch keine Schwäche. Schneider ergänzt ein paar Augenblicke später, nur wenn die Genossen wieder lernten, die eigenen Argumente in der innerparteilichen Auseinandersetzung zu schärfen, könnten sie in einem stark polarisierten Bundestag und in einer stark politisierten Öffentlichkeit auch wirklich wieder zu den Menschen durchdringen.
Eines der großen Problem an dieser Hoffnung auf die Wunderwirkungen einer neue Debattenkultur aber ist: Die vergangenen Jahrzehnte haben gezeigt, dass Wähler in Deutschland sich mindestens schwer tun mit Parteien, die lebhafte innerparteiliche Diskussionen pflegen. Besonders wenn sie von Personalquerelen wie der zwischen den beiden Ex-SPD-Chefs Martin Schulz und Sigmar Gabriel begleitet werden.
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