Gesellschaft der Selbstverliebten
Forscher behaupten, dass die westliche Kultur die Ausbreitung eines übersteigerten Narzissmus fördert. Nur die Ostdeutschen machen da nicht so recht mit, sagt die Studie
Nach dem Fall der Mauer gab es bei Ost- und Westdeutschen überschäumende Freude. Und fast schien es, als könnte beide künftig nichts mehr trennen. Doch der Traum von »Deutschland, einig Vaterland« war bald ausgeträumt. Nach der Wiedervereinigung wurden die Ostdeutschen im Westen als undankbare Jammerossis, die Westdeutschen im Osten als eitle Besserwessis geschmäht.
Alles nur Klischees? Nicht ganz, sagen Psychologen: Bei Menschen, die in den alten Bundesländern aufgewachsen sind, ist eine übersteigerte Selbsteinschätzung weiter verbreitet als bei Menschen aus den neuen Ländern. So jedenfalls lautet das Ergebnis einer Studie, die ein Forscherteam um Aline Vater und Stefan Röpke von der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Berliner Charité durchgeführt hat. Daran teil nahmen über 1000 Bundesbürger aus Ost und West im Alter zwischen 18 und 83 Jahren, denen man Fragen zu ihrem Selbstbild und ihrer Selbsteinschätzung stellte. Wie: »Sind Sie jemand, der immer die Führung und Leitung übernehmen will, oder können Sie auch in zweiter Reihe gute Arbeit leisten?« Eines freilich hätten die Befragten vorab nicht gewusst, sagt Röpke, nämlich »dass es in der Studie darum gehen sollte, mögliche Unterschiede zwischen Deutschen zu finden, die in Ost und West sozialisiert wurden«. Das Ergebnis fiel eindeutig aus: In Westdeutschland aufgewachsene Menschen weisen höhere Narzissmus-Werte auf als in Ostdeutschland aufgewachsene. Ausgehend hiervon wagen die Berliner Forscher die These, dass moderne westliche Gesellschaften generell die Ausprägung narzisstischer Denk- und Verhaltensweisen fördern.
An dieser Stelle sei ein kurzer Blick auf die Herkunft der in der Studie verwendeten Begrifflichkeit gestattet. Gemeinhin bezeichnet der Begriff Narzissmus die Selbstverliebtheit eines Menschen, der sich zugleich für wertvoller hält als andere und deshalb häufig eine Vorzugsbehandlung beansprucht. Abgeleitet ist der Begriff von dem antiken Narziss-Mythos, den der römische Dichter Ovid in seinen »Metamorphosen« erzählt. Narziss, der Sohn des Flussgottes Kephissos, ist ein schöner Jüngling, in den sich Männer wie Frauen verlieben. Doch er weist alle herzlos zurück. Das ruft die Rachegöttin Nemesis auf den Plan. Sie straft Narziss mit unstillbarer Liebe zu seinem Spiegelbild. Je länger er dieses im Wasser anblickt, desto mehr bewundert er sich selbst. Unfähig, sich von seinem Bild zu lösen, schwindet Narziss allmählich dahin und verwandelt sich im Tod in eine Narzisse.
Der erste Wissenschaftler, der menschliches Verhalten mit der Selbstliebe des mythischen Narziss in Zusammenhang brachte, war 1887 der französische Psychologe Alfred Binet, der auch den klassischen Intelligenztest erfand. 1909 bemächtigte sich Sigmund Freud des Begriffs Narzissmus. Nach der von ihm begründeten Psychoanalyse durchläuft jeder Mensch in seiner frühen Kindheit ein narzisstisches Stadium, in dem er seine sexuelle Energie (Libido) ausschließlich auf das eigene Ich richtet. Geschieht dies auch im Erwachsenenalter, kommt es zu einer psychischen Fehlentwicklung, bei welcher die Betroffenen ihre permanente Unsicherheit durch eine übertriebene Selbsteinschätzung sowie den Wunsch nach Bewunderung zu kompensieren versuchen. Obwohl Freuds Libido-Modell heute als überholt gilt, hat der Begriff Narzissmus breiten Eingang in die Alltagspsychologie gefunden, wird hier allerdings häufig unangemessen verwendet.
Wissenschaftler gehen heute davon aus, dass Narzissmus nicht notwendigerweise pathologisch ist. Vielmehr hat jeder Mensch narzisstische Züge, die es ihm erleichtern, sein Selbst in einer häufig als ablehnend empfundenen sozialen Umwelt zu stabilisieren. Diese Neigung wurzelt in unserer evolutionären Vergangenheit und ist Menschen gewissermaßen angeboren. Anders liegen die Dinge bei den sogenannten grandiosen Narzissten, die glauben, dass niemand sich mit ihren Fähigkeiten messen könne. Zugleich fühlen sich viele in ihrer vermeintlichen Größe nicht ausreichend gewürdigt und tendieren mithin dazu, andere Menschen zu missachten oder zu kränken. Als typisches Beispiel für einen grandiosen Narzissten wird gern US-Präsident Donald Trump angeführt. Aber auch unter hiesigen Spitzenpolitikern lassen sich leicht Vertreter dieser »Spezies« finden.
Die Berliner Forscher haben bei der Auswertung ihrer Daten ebenfalls zwischen einem unterschwelligen, gleichsam moderaten und einem ausgeprägten Narzissmus unterschieden. Dass Letzterer vor allem unter Westdeutschen verbreitet ist, führt Röpke auf die jahrelange getrennte Sozialisation der Menschen in Ost und West zurück. »Während zwischen 1949 und 1989/90 der Westen der Republik von einer eher individualistischen Kultur bestimmt war, bestand im Osten Deutschlands eine eher kollektivistische Ausrichtung. Niederschlag findet die jeweilige gesellschaftliche Prägung unter anderem in der Ausprägung des Persönlichkeitsmerkmals Narzissmus.«
Zwar beschreibt das Adjektiv »kollektivistisch« das soziale Leben in der DDR nur sehr unzureichend. An den Ergebnissen der Studie ändert das freilich nichts. Bei der Vorbereitung der Befragung hatten die Berliner Forscher noch angenommen, dass das Selbstwertgefühl bei im Westen sozialisierten Menschen stärker ausgeprägt sei als bei im Osten sozialisierten. Dem ist jedoch nicht so. Es sei vielmehr die westliche Kultur, die das Selbstwertgefühl klein halte, sagt Röpke und vermutet, dass ausgeprägter Narzissmus zulasten des Selbstwertgefühls gehe. »Wenn man stets gesagt bekommt, man solle das Beste aus sich machen, alle aber nicht die Besten sein können, ist das immer auch ein Angriff auf den Selbstwert.« In der DDR, wo im Alltag weniger Konkurrenzdruck herrschte, waren Misserfolge für den Einzelnen zwar auch psychisch belastend, sie wurden aber seltener als existenzielle Bedrohung empfunden.
Bereits im Jahr 2008 hatten US-Psychologen aus einer von ihnen durchgeführten Metaanalyse geschlossen, dass die westliche Gesellschaft immer narzisstischer werde. Damit nicht genug diagnostizierten sie eine regelrechte »Narzissmus-Epidemie«, von der vor allem junge Menschen betroffen seien. Zwar äußerten andere Forscher Zweifel an den erhobenen Daten und der Methodik ihrer Auswertung. Gleichwohl ist unübersehbar, dass eine Gesellschaft, die Promis aller Couleur medial glorifiziert und ihnen schier übermenschliche Fähigkeiten zuschreibt, bei vielen die Neigung zur Selbstverliebtheit verstärkt. Und dies häufig bis zur Peinlichkeit, wie man beinahe in jeder Talkshow oder bei Preisverleihungen beobachten kann.
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