Ruf nach Menschlichkeit

Boulez und Barenboim führten sämtliche Mahler-Sinfonien auf

  • Liesel Markowski
  • Lesedauer: ca. 3.0 Min.
Die Berliner Staatsoper beging ihre Frühlingsfesttage diesmal auf ungewöhnliche Weise: In durchgehendem Zyklus wurden sämtliche Sinfonien und Orchesterlieder von Gustav Mahler aufgeführt. Unter der Leitung von Pierre Boulez und Daniel Barenboim schon eine Attraktion fürs Publikum, das in Scharen die Ränge im großen Saal der Philharmonie füllte - ausverkauftes Haus in Serie. Erfreulich, dass die anspruchsvolle Musik des genialen österreichischen Komponisten jüdischer Abstammung, die sich erst nach Nazifaschismus und Krieg in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts auf deutschen Podien durchsetzte, heute solche Resonanz findet. Um Existenzfragen ging es Mahler in seinen sinfonischen Werken. In ihnen tönt angesichts drohender Katastrophen (Erster Weltkrieg) der Ruf nach Menschlichkeit. Es ist dies nicht nur eine Geste, die uns Mahler nahebringt, sondern seine fast fanatische Beschwörung des Guten, die uns angesichts heutiger Gefahren bewegt. Gerade das war bei dem monumentalen E-Dur-Werk, der 8. Sinfonie von 1907, unter dem Dirigat von Pierre Boulez zu spüren. Die gewaltigen Klangmassen dieser Musik zwangen zu intensiver Aufmerksamkeit. Mahler hat es als »das Größte« bezeichnet und von klingendem Universum gesprochen. »Sinfonie der Tausend« hieß es bei geschäftstüchtigen Agenten. In der Tat, die Mitwirkenden sind Legion. Das überdimensional besetzte Orchester wie die Menge der Sänger, acht Solisten (drei Soprane, zwei Alte, Tenor, Bariton, Bass) und drei Chöre (Staatsopernchor, Philharmonischer Chor Prag, Aurelius Sängerknaben Calw): Podium und Chorpodeste schienen überfüllt, beeindruckend anzusehen. Herausfordernd das Werk in seinen gigantischen Dimensionen und seiner Anlage auf zwei extrem verschiedenen Texten: dem mittelalterlichen Pfingsthymnus »Veni, creator spiritus« im ersten und der Schlussszenen aus Goethes »Faust II« im zweiten Teil. Eine vokal dominierte Sinfonie, die Mahlers humanistisches Credo der Welt offenlegt und deren Aufführung immer ein seltenes und aufregendes Ereignis ist. Dass sie an diesem Abend imposante Konturen hatte, war den homogen aufeinander abgestimmten Chören wie der farbenreich spielenden Berliner Staatskapelle zu danken. Boulez setzte offenbar auf die beschwörende Kraft des Werkes, was sich beim von Orgel und Orchester akzentuierten Eingangschor und Hymnus attackierend laut auswirkte und im solistischen Gesang zu gewissen Grobheiten führte (Männerstimmen). Differenziert ausschattiert dagegen die orchestralen Zwischenspiele. Auch der Goethe-Teil mit den Szenen der Anachoreten (Einsiedler) und Engelchören war ausgewogen. Eindrucksvoll das Finale mit dem »Chorus mysticus«, sich steigernd vom Pianissimo zu energiegeladener Fülle mit triumphierendem Blech aus Emporenhöhe und zu gloriosem Schönklang. Ganz Gegenteil dazu, ein Rückzug ins Intime, ist »Das Lied von der Erde«, benachbartes Spätwerk von 1908: Orchesterlieder voll berückender Schönheit und rührender Tragik, nun in eindringlicher Wiedergabe mit der Kapelle und Solisten unter Daniel Barenboim zu hören. Mahler hat es »das Persönlichste« unter seinen Werken genannt. Es sind Gesänge von Einsamkeit, Wehmut und Abschied, auch von der Schönheit des Lebens und der Welt, komponiert nach altchinesischer Lyrik, die Hans Bethge übertragen und in der Sammlung »Die chinesische Flöte« ediert hatte. Der Komponist verstand den Zyklus der sechs Vertonungen, die abwechselnd von einem Alt und einem Tenor (Michelle DeYoung, Burkhard Fritz) gesungen werden, als Sinfonie für Stimmen und Orchester. Barenboims Interpretation war von bestrickender lyrischer Feinheit getragen und entsprach dem subjektiven Wesen dieser Musik des »Fin de siècle«. Berührend, wie Stimmungen der Resignation, der Glücklosigkeit von Daseinslust und Freude am Schönen aufgebrochen werden. Die wunderbare Koloristik der Klänge hat die Staatskapelle in feinster Gestik und Artikulation realisiert, transparente Spielkultur auf den Sologesang abgestimmt. Beide Sänger trafen ihren Part adäquat und mit vokalem Charme, wenn auch die Textdeutlichkeit (besonders der Altistin) zu wünschen übrig ließ. Dennoch schloss sich der Bogen vom Beginn des »Trinklieds vom Jammer der Erde« und der Tragik des »Einsamen im Herbst« über die idyllischen und lockeren Mittelparts von Jugend, Schönheit und Trunkenheit zum schmerzlichen, fast tonlos verklingenden »Abschied« mit sensiblem Orchesterzwischenspiel und wie gehauchten Tönen der Altstimme: » ...und ewig blauen licht die Fernen! Ewig ... ewig ...«. Leis...

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