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Das Märchen von München
Volker Weidermann erzählt von einer Zeit, als Dichter an der Macht waren - die Bayerische Räterepublik
Wer heutzutage noch freimütig zugibt, von einer Sache tief ergriffen worden zu sein, macht sich rasch verdächtig. Die Szene gehört dem ausgeglühten Urteil. Die Neigung zum Abschwören erzielt in der Öffentlichkeit bessere Zensuren als das Pathos der Begeisterungskräfte. Volker Weidermann, Literaturkritiker beim »Spiegel«, hat die kurze, hoch aufrauschende, dann tief zu Tode stürzende Geschichte der bayerischen Volksrepublik 1918/19 geschrieben - als mitreißende, mitfühlende, mittrauernde Bejahung des Unglaublichen. Er nennt, was 106 Tage währte, »ein Märchen«.
• Volker Weidermann: Träumer. Als die Dichter die Macht übernahmen.
Kiepenheuer & Witsch, 288 S., geb., 22 €.
Das Märchen von München. So schön, dass es wahr wurde. Zu schön, um nicht als Tragödie zu enden. Die Bohéme als Bollwerk gegen die Wittelsbacher. Poeten gegen die Panzerfaust der Reaktion. Kurt Eisner sieht im Sozialismus »ein klares, erreichbares Ziel«. Gustav Landauer, Beauftragter für Volksaufklärung, ficht für die »Umbildung der Seelen«, die Abschaffung der Hausaufgaben und des Rohrstocks. Ret Marut (B. Traven) fordert, Presse solle »ein Kulturträger sein und kein Geschäft«. Sie alle schwärmen, schwärmen aus. Ernst Toller, Oskar Maria Graf, Erich Mühsam. Dessen spätere bittere Bilanz: »Das ist die Revolution, der ich entgegengejauchzt habe. Nach einem halben Jahr ein Bluttümpel: mir graut.«
Natürlich werden diese seltsamen Helden von Anfang an auch belächelt, beschimpft, bespien. Fremde im Zwang der Strukturen, Unorthodoxe im Getriebe der Bürokratie. Bewandert im freien Wort, ungelenk aber in den Durchführungsbestimmungen. Doch waren sie »Traumarbeiter, nicht Traumtänzer«. Zwar kommt das Frauenwahlrecht, die Arbeitslosenversicherung, die Soldaten und Arbeiter schöpfen Friedensmut - trotzdem werden Eisners Unabhängige Sozialdemokraten im Januar 1919 zu Wahlverlierern. Die Ideologen schlagen zu, die Antisemiten, dann der Militärterror.
Weidermann erzählt souverän salopp. Recherche wird umsahnt mit Esprit. Er will nicht drüberstehen, er will hinein. Sieht Thomas Mann zu, wie der sich windet zwischen den Fronten. Beobachtet Rilke, wie der euphorisch aufhorcht, dann deprimiert wieder zurücksinkt. Tempo und Timing. Als hätte es schon versteckte Mikrofone und Kameras gegeben. Alles wahr, manches boulewahr, auf jeden Fall treibend, lebendig.
Lesend stehst du - letztlich - wie an einem Grab: Salute! Der Kopf senkt sich jedoch nicht, er arbeitet: Du fühlst dich befeuert, und alles, was eine Gegenwart befeuert, erzählt eben immer auch von Zukunft - der Asche. Immer schießt eine Utopie hoch über alles Bestehende hinweg. Doch aus dem Schatten freien Denkens kommt eben auch Avantgardismus, er bleibt eine Gefahr aller Träumerei - dann nämlich, wenn der Traum zur Organisation werden muss und Kader nähren soll. Auch die Radikaleinflüsse der sowjetgeschulten Kommunisten schildert Weidermann, im Kampf gegen Freikorps und Reichswehr.
Die Schwankungen der Menge; Sanftmut gegen spartakistische Härte. Die Linke spaltet die Gesellschaft. Und sich selber: frühes Training für eine Meisterschaft bis heute. Linke Ideen erzeugen die Revolution, und Revolutionen schüren die Ideen von rechts. Jener »bleiche, schmale Mann« im unübersehbaren Trauerpulk für Eisner - ist das nicht der erfolglose Kunstmaler Hitler, der noch nicht weiß, »welche Aufgabe das Leben für ihn vorgesehen hat«.
Im Februar 1919 war Ministerpräsident Eisner erschossen worden. Auf offener Straße. Ermordet, dieser Preuße in München, dieser linke Jude; jener Schreiber - der zum Streikführer avancierte, zum Königsvertreiber, zum Sozialdemokraten der Konsequenz, des Charakters, des unbeugsamen plebejischen Geistes. Die treppenwitzige Tragödie: Der berühmte Chirurg Sauerbruch versucht Eisners Leben zu retten - während auch Erhard Auer auf eine Operation wartet, Eisners Kontrahent, jener burgfriedensweiche SPD-Mann, der als Anstifter des Attentats gelten darf und den nun selber Schüsse am Rednerpult im Parlament trafen. Da er gerade Eisners Schicksal beheuchelte. Auer überlebt.
Die Dichter in Bayern wagten viel. Das geschichtliche Fazit kehrt sich aus unserer Gegenwart zu ihnen um, zuckt beschämt, belehrt mit den Schultern und doziert: Revolution? Ach, all das wünschenswert Bessere dieser Welt wird künftig von der Frage belastet sein, wie es gelingt, fern kollektiver Umstürze Weisheit und Einsicht auf soziale Institutionen zu übertragen und in technische Systeme einzubauen. Es gibt kein endliches Ankommen und kein »letztes Gefecht« mehr.
Nach München, so Weidermann, zieht es in jenen Wochen »Wintersandalenträger, Prediger, Grashörer, Befreite und Befreier, Langhaarträger, Hynotisierer und Hypnotisierte, Schwebende. Wer in diese leuchtende Stadt kommt, wird selbst erleuchtet.« Künstler, Intellektuelle als Staatenregler? »Laienspieler«. So hat man auch 1989 im Osten Deutschlands jene genannt, die nicht aus der Ochsentour zur unerwarteten friedlichen Revolution kamen.
Geist und Macht, das ewig unerlöste Paar. Aber fänden Poesie und Politik wirklich zueinander, es wäre wohl das Ende der Welt. Träumer taugen nicht für den politischen Ort, wo ständig ein böses Erwachen stattfindet. Weidermann zitiert Tollers letzten trotzigen Satz in dessen Autobiografie von 1933: »Ich bin nicht müde.« Sechs Jahre später wird sich der Dichter aus dem Leben nehmen. Mit Blick auf Münchens grandiose, geschundene Märchengestalten und deren Vermächtnis endet Weidermann mit den Worten: »Müdigkeit ist keine Option.«
Auch ein schöner, trotziger Satz. Ein provokativer, weil sehr selbstgewisser Satz. Wie ausdauernd muss man selber gekämpft und wieder gekämpft haben, um diesen Satz, der eine Forderung auch an andere ist, glaubwürdig sagen zu dürfen? Müdigkeit kann sehr wohl ein Verdienst, eine Rettung sein. Ein Beleg. Ein letzter Schutz. Wir heute scheinen auch sehr müde zu sein. Befinden uns im Zustand der Entbindungen. So, als vertrüge sich eine Hoffnung, für die Eisners bunte Truppe stand, nimmermehr mit jener Entzauberung, die sich durch alle Geschichte zieht. Kampfeslust? An uns und an anderen beobachten wir doch, dass wir oft genug nicht reden, wie wir denken, und nicht handeln, wie wir reden. Streiten uns in Trance über die neuesten alten, durchgelatschten Gesellschaftstheorien. Definieren uns kaputt, was links, rechts, mittig sei. Wir sind müde, zumeist ohne vorherigen Kampf. Noch träumen? Wovon?
Vielleicht von einer Revolution der neueren Art: Die Hoffenden schließen mit den Skeptischen endlich Frieden. Man behauptet sich nicht mehr gegeneinander, sondern lernt voneinander. Es müssten zwei Wahrheiten zusammenfinden: Dass die Ideale nicht zu Ende sind, davon erzählt die eine Wahrheit, aber dass die besagte Entzauberung der Ideale ebenfalls weitergeht, davon erzählt die andere - und jedes Wissen bewegt, verändert jeden. Der Blick derer, die neugierig aufschauen, würde sich mit dem Blick derer kreuzen, die leider schon zu viel gesehen haben. Traumhaft.
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