Antiamerikanismus: Das Buch zum Bauchgefühl
Was wir in den letzten Jahren in Deutschland spüren, hat sich in den Vereinigten Staaten schon im Laufe der Siebzigerjahre als Empfindung der US-Bürger durchgesetzt, meint Roberto J. De Lapuente
Was haben wir Debatten geführt in den letzten Jahren. Über Abgehängte zum Beispiel. Oder Prekarisierung. Darüber, dass die Mittelschicht verarmt und fast alle unter Abstiegsängsten leiden. Dazu kommen Symptome, die man randständig auch hin und wieder thematisiert. Aber nicht ganz so passioniert. Zum Beispiel, dass die politische Kaste abgehoben ist, nichts vom Leben ganz normaler Bürger ahnt. Dazu Gewinnsucht allerorten – nur noch das Geld zähle. Ganz gleich, wohin man auch komme, ob ins Krankenhaus oder in die Schlange, die beim Elektrohandel für Garantieleistungen ansteht: Überall nur Geschäftemacherei und Obsoleszenz. Stadtteile verwildern und blühen dann unbezahlbar gentrifiziert auf. Die Infrastruktur wirkt schäbiger, ja alt und abgenutzt. Innovationen sind aus, Erneuerungen beschränken sich auf das Notwendige und überall scheint der Service schlechter.
Der Journalismus hat ein Glaubwürdigkeitsproblem
Die Folgen sind mannigfaltig. Volksparteien gibt es keine mehr, Wahlbeteiligungen schrumpfen, falsche Alternativen erhalten Zulauf. Viele Menschen flüchten sich in Surrogate, entziehen dem Staat reichsbürgerlich die Legitimation oder werfen als besorgte Bürger Beleidigungen an die Köpfe von Volksvertretern. Der Respekt vor staatlichen Institutionen schrumpft, Polizisten werden angepflaumt, der Rettungsdienst attackiert und öffentlich-rechtliche Sendeformate grundsätzlich der Lüge bezichtigt. Überhaupt leidet der Journalismus unter einem Glaubwürdigkeitsproblem. Zu staatstragend sei er – dabei ist er nur werbekundetragend, was man gemeinhin aber verwechselt. Die Gewissheiten von einst, sie scheinen zu schwinden. Dass Leistung was bringt und Anstand glücklich macht: Die Gewinnertypen in den Medien geben auf beides nichts. Wer soll das also glauben?
Was wir in den letzten Jahren in Deutschland spüren, hat sich in den Vereinigten Staaten schon im Laufe der Siebzigerjahre als Empfindung der US-Bürger durchgesetzt. In jener Zeit strauchelte die nationale Politik in eine tiefe Vertrauenskrise, sie offenbarte sich als korrupt und abgehoben. Immer stärker schottete sich die US-amerikanische Innenpolitik von den Interessen der Bürger ab, exekutierte Wirtschaftsinteressen und verlor so ihr gesellschaftliches Mobilisierungspotenzial. George Packer hat vor einigen Jahren über diese Entwicklung in seiner Heimat geschrieben, »eine innere Geschichte des neuen Amerika« untertitelte er sein Projekt. Der Haupttitel lautete »Die Abwicklung«, was relativ gut umschreibt, was in den USA geschehen sei. Man wickelte den alten amerikanischen Traum (so fehlerbehaftet, so ignorant er auch war) einfach ab, ohne den Menschen einen Ersatz zu präsentieren.
Packer schickt seine Leser durch die Jahre, beginnt in den Siebzigern und lässt sie in den Jahren von Obama enden. Episodenhaft wirft er dabei Blicke auf verschiedene Protagonisten: Auf Leute aus dem Rostgürtel, eine schwarze Arbeiterin, einem politischen Berater oder auf die Stadt Tampa, die ein Reißbrettgeschöpf der Immobilienblase war. Es ist eine Geschichte von sich steigernder Desillusionierung, von Niedergang und Verarmung. Der Glaube an die Politik scheint im Laufe der Zeit immer mehr verloren gegangen zu sein, nichts schien mehr sicher, die Bürger wandten sich ab von einer Politik, die sie schon seit Jahrzehnten nicht mehr hört. Die den Konzernen Profite ermöglichte und Wohlstand einseitig verteilte, von der Real- zu einer Finanzwirtschaft transformierte.
Der Autor beschreibt aber auch Erfolgsgeschichten, das Gegenteil dieser Entwicklung – und nicht selten deren Ursache. Er widmet Zwischenkapitel berühmten Amerikanern: Newt Gingrich, Peter Thiel oder Andrew Breitbart. Allesamt libertäre Zeitgenossen, die auf ihre Weise dazu beitrugen, das Vertrauen in staatliche Lösungen zu zerstören. Aber auch Oprah Winfrey wird thematisiert und von Packer als jemand skizziert, der die Ideale der radikalen Individualisierung und damit Entsolidarisierung in die Wohnzimmer brachte. An diesen Eliten spürt man, dass die alten intermediären Systeme keinen Einfluss mehr hatten.
Geschichte ähnelt sich
Abwicklung: Das ist im Grunde das Wort, das wie der Deckel zum Topf passt. Genau das ist es, was wir erleben. All diese Symptome sind Produkte einer gigantischen Abwicklung. Geschichte wiederholt sich nicht. Aber sie ähnelt sich. Und das, was George Packer literarisch als Niedergang in den USA verarbeitete, ähnelt stark dem, was wir gerade erleben. Die neoliberale Agenda hat Identität und Solidarität abgewickelt. Sie löst die alten Bande, destabilisiert das Gemeinwesen und amerikanisiert die Verhältnisse. Wenn es Bernie Sanders oder Noam Chomsky nicht gäbe, man könnte fast antiamerikanisch werden.Das »nd« bleibt gefährdet
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