Strafe oder Aufklärung?

NATO nutzt den »Fall Skripal« für antirussische Hysterie / Nicht alle EU-Staaten folgen konfrontativem Kurs

  • Hubert Thielicke
  • Lesedauer: 3 Min.

Gespenstische Bilder aus Salisbury: Sicherheitskräfte in gelben Schutzanzügen sind in der beschaulichen Kleinstadt zugange. Westliche Medien und Politiker beharren auf einer Schuld Moskaus am Giftanschlag. Beweise wurden allerdings nicht vorgelegt. Dabei enthält die Konvention über das Verbot der chemischen Waffen eindeutige Bestimmungen über die Klärung solcher Fälle. Artikel IX sieht vor, dass die betreffenden Staaten sich konsultieren und zusammenarbeiten sollen. Ein Staat, der eine Aufforderung zur Klärung eines Verdachtsfalles erhält, hat innerhalb von zehn Tagen die nötigen Informationen zur Verfügung zu stellen. Der Wille zu einem rechtlichen Verfahren war jedoch in London nicht vorhanden. Nicht zuletzt getrieben von ihren Brexit-Problemen beschuldigte Premierministerin May Russland und forderte es ultimativ auf, innerhalb von einem Tag über das angebliche Nowitschok-Programm zu informieren. Von einer Beachtung des Völkerrechts, eben der Verbotskonvention, bei deren Ausarbeitung die britische Delegation in Genf in den 1980er Jahren eine aktive Rolle spielte, keine Spur.

Der Streit eskalierte rasch: Nach der Ausweisung von 23 russischen Diplomaten durch London forderten die USA von Russland den Abzug von 60. Auf mehr oder weniger sanften Druck aus Washington folgten weitere 23 Länder, darunter 19 EU-Mitglieder. Von einer »weltweiten Aktion« wie mitunter behauptet, kann also nicht die Rede sein. Manches Land folgte sicher nur widerwillig den USA und Großbritannien.

Immerhin waren neun EU-Länder, darunter Bulgarien, Griechenland, Luxemburg und Portugal, nicht zu einer solchen »Strafmaßnahme« bereit. Österreich wolle seiner »Brückenfunktion« gerecht werden, begründete dessen Außenministerin Karin Kneissl diese Zurückhaltung. Sicher wollte man auch nicht den für Juni geplanten Besuch von Präsident Putin gefährden.

Die neue deutsche Regierung scheint dagegen von Sorge um Spannungen und neuen Kalten Krieg unbelastet. Außenminister Heiko Maas, der es als ehemaliger Justizminister eigentlich besser wissen müsste, ergeht sich in Vorverurteilungen und Verteidigungsministerin von der Leyen spricht gar von einem »Regelbruch Russlands«, der eine geschlossene Aktion des Westens verlange. Ob da die Intention eine Rolle spielt, demnächst vielleicht die erste NATO-Generalsekretärin zu werden? Jens Stoltenberg, aktueller NATO-Chef, ließ jedenfalls bei seiner Pressekonferenz aus Anlass der Reduzierung der russischen NATO-Mission am 27. März die Katze aus dem Sack: Salisbury sei eigentlich nur der Auslöser, es ginge um eine breitere Antwort der NATO auf das generelle »unakzeptable Verhalten Russlands«.

Auch in der deutschen Politik stößt diese gefährliche Linie auf Widerstand. Für Bundestagsabgeordnete wie Sahra Wagenknecht und Stefan Liebich (Die Linke), Rolf Mützenich (SPD) und Jürgen Trittin (Bündnis 90/Die Grünen) zeugen die Ausweisungen russischer Diplomaten von »schlichtem Unverstand« oder sind zumindest »übereilt«.

Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki (FDP) verwies im Deutschlandfunk darauf, dass niemand wisse, wo das Gift herkomme. Er sehe mit großer Sorge, »dass die NATO wieder einen Feind braucht, damit sie erstens ihre eigene Existenz rechtfertigt und zweitens dass Herr Stoltenberg seine Idee, zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts in Rüstung zu stecken, auch umsetzen kann.« Günter Verheugen, ehemaliger Vizepräsident der EU-Kommission, warnte vor dem »Beginn einer schweren internationalen Krise«, die außer Kontrolle geraten könne.

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