Fehlerhaft und einseitig
LINKE im Hessischen Landtag beklagt schwere Nachlässigkeiten im NSU-Abschlussbericht
Nach jahrelanger Ausschussarbeit, bei der rund 2000 Akten gesichtet und etwa 100 Zeugen vernommen wurden, ist nun dieser Tage der Entwurf eines Abschlussberichts mit rund 700 Seiten fertig geworden. Ende April soll gemäß einer Vereinbarung der Obleute der Fraktionen über den Bericht abgestimmt werden, der dann dem Landtagsplenum zur Beratung vorgelegt werden könnte. Ab dann haben die Fraktionen zwei Monate Zeit, um gegebenenfalls abweichende Berichte als Sondervoten zu erstellen. Somit könnte sich die abschließende Beratung im Plenum bis nach der Sommerpause und damit bis zum Beginn der heißen Phase des Wahlkampfs hinziehen. Der Urnengang findet am 28. Oktober statt.
Dass es keinen gemeinsamen und einheitlichen Bericht aller fünf Landtagsfraktionen geben wird, steht bereits fest. So wird die Linksfraktion ein eigenes Papier erstellen - auch unabhängig von der Tatsache, dass die CDU auch hier weiter auf Ausgrenzung setzt und mit der LINKEN kein gemeinsames Papier unterzeichnen will. Beobachter gehen davon aus, dass auch die SPD-Fraktion einen eigenen Bericht erstellen wird.
Der Obmann der Linksfraktion im NSU-Untersuchungsausschuss, Hermann Schaus, begründete für seine Fraktion, der vorliegende Entwurf sei «mit heißer Nadel gestrickt», enthalte falsche Fußnoten, Rechtschreibfehler, Doppelungen und teilweise große inhaltliche Divergenzen zwischen dargestellten Sachverhalten und daraus abgeleiteten Schlussfolgerungen. Das Papier stelle die Streitpunkte im Ausschuss, Kritik an Aktenschwärzungen und Widersprüche zwischen einzelnen Zeugenaussagen nicht hinreichend dar und sei «nicht konsistent, fehlerhaft und einseitig».
Zu den inhaltlichen Mängeln zählt Schaus die Darstellung des Tathergangs in dem Kasseler Internetcafé. So stelle der Berichtsentwurf die Möglichkeit in Rechnung, dass der damals im Internetcafé anwesende hessische Verfassungsschutzmitarbeiter Andreas Temme den Tatort kurz vor dem Mord verlassen habe. «Dies ist aus verschiedenen Gründen mindestens fragwürdig, wenn nicht gar unwahrscheinlich», so Schaus, der in akribischer Kleinarbeit Fakten gesammelt hatte, die nahelegen, dass Temme auch noch zum Zeitpunkt der tödlichen Schüsse in den Räumlichkeiten war und den sterbenden Halit Yozgat gesehen haben dürfte.
Aufgrund neuer Erkenntnisse hatte Schaus im Namen seiner Fraktion Ende März 2017 Strafanzeige gegen Temme wegen uneidlicher Falschaussage vor dem NSU-Ausschuss im Bundestag eingereicht. Temmes Beteuerung, dass die NSU-Mordserie für ihn und seine Behörde bis zum 21. April 2006 «dienstlich definitiv kein Thema» gewesen sei, habe sich als hinfällig erwiesen. Der Verfassungsschutzmitarbeiter habe sich im März 2006 keineswegs privat und zufällig am Tatort aufgehalten und zudem schon zwei Wochen zuvor dienstlich mit der NSU-Mordserie befasst, so Schaus. «Das ist nun genau ein Jahr her und immer ist noch nichts passiert. Die Staatsanwaltschaft in Berlin, der die Strafanzeige vorliege, solle endlich ihre Arbeit erledigen.
Die Rolle Temmes, der in seiner nordhessischen Heimatgemeinde aufgrund seiner rechten Gesinnung in früheren Jahren als »kleiner Adolf« bekannt war, werde im vorliegenden Papier verharmlosend dargestellt. Aus dem Bericht gehe auch nicht eindeutig hervor, dass Bouffier 2006 nach der Tat den Landtag zuerst gar nicht und später unter dem Druck von Presseberichten »eindeutig falsch informiert« habe. Insgesamt mache sich die Kritik der Linksfraktion an rund 260 Punkten fest, die im vorliegenden Entwurf nicht oder nicht gebührend dargestellt würden, so Schaus. Er mahnt eine Verbesserung des Abschlussberichts bis Ende April an.
Zudem verlangt die hessische Linksfraktion vom UNA 19/2 eine vollständige Übersetzung des Abschlussberichts samt Handlungsempfehlungen und Sondervoten in die türkische Sprache, die Muttersprache der Eltern von Halit Yozgat. Die NSU-Mordserie stelle einen Angriff auf in Deutschland lebende Migranten dar. Zudem seien die Opferfamilien monatelang einem falschen Verdacht der Sicherheitsbehörden ausgesetzt gewesen und damit »ein zweites Mal zum Opfer« geworden, so die Begründung. »Die Aufarbeitung dieses Unrechts durch die Ausschussarbeit muss allen Bürgern zugänglich sein, auch wenn Sprachbarrieren bestehen«, heißt es im Antrag, der demnächst im UNA 19/2 beraten wird.
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