Jobcenter verhängen immer mehr Hartz-IV-Sanktionen

13.700 mehr Strafen als im Vorjahr / 77 Prozent der Sanktionen wegen Meldeversäumnissen / Paritätische Wohlfahrtsverband: Hartz-IV-Sanktionen komplett abschaffen

  • Lesedauer: 3 Min.

Nürnberg. Die Bundesagentur für Arbeit hat im vergangenen Jahr etwas mehr Sanktionen gegen Hartz-IV-Bezieher verhängt als im Vorjahr. Mit knapp 953.000 seien es rund 13.700 Sanktionen mehr gewesen als 2016, teilte die Bundesagentur am Mittwoch in Nürnberg mit. Die Sanktionsquote, also das Verhältnis der verhängten Sanktionen zu allen Leistungsberechtigten, habe sich jedoch nicht verändert. Sie liege bei 3,1 Prozent.

»Die allermeisten Leistungsberechtigten halten sich an die gesetzlichen Spielregeln«, sagte der BA-Vorstandsvorsitzende Detlef Scheele. Der Paritätische Wohlfahrtsverband forderte unterdessen, Hartz-IV-Sanktionen komplett abzuschaffen.

Gründe für Sanktionen gegen Hartz-IV-EmpfängerInnen

Mit 77 Prozent entfällt der größte Teil der Sanktionen auf Meldeversäumnisse. Dazu zählt etwa, wenn jemand einen Termin beim Jobcenter ohne Angaben eines wichtigen Grundes nicht wahrnimmt. Im vergangenen Jahr verringerten die Jobcenter deshalb in 733.800 Fällen die Regelleistung um zehn Prozent. Für die Weigerung, eine Arbeit oder Maßnahme aufzunehmen, wurden 98.860 Sanktionen ausgesprochen.

Scheele kritisierte die Vorschriften bei der Sanktionierung von Jugendlichen. So sieht das Gesetz bei Jugendlichen bereits beim ersten Regelverstoß, der über ein Meldeversäumnis hinausgeht, eine 100-prozentige Kürzung der Regelleistung vor. Kommt innerhalb eines Jahres ein weiterer Pflichtverstoß dazu, kann auch die Miete gekürzt werden. »Das bereitet uns Sorge, weil die strikten Sonderregelungen bei Jugendlichen zu besonders einschneidenden Leistungskürzungen führen«, sagt Scheele und zeigte sich offen für Veränderungen.

Auch die Kürzung der Miete, von der sowohl Jugendliche als auch Erwachsene bei wiederholten Verstößen betroffen sind, sieht Scheele problematisch: »Drohende Wohnungslosigkeit hilft uns bei der Vermittlung und auch sonst nicht weiter.«

Der Paritätische Wohlfahrtsverband kritisierte die Sanktionen, mit denen Menschen häufig in existenzielle Notlagen gezwungen würden, als verfassungsrechtlich höchst zweifelhaft und in keiner Weise zielführend. »Sanktionen bringen Menschen nicht schneller in Arbeit, sie werden als Drangsalierung und Ausdruck sozialer Ignoranz wahrgenommen«, sagte Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Verbandes, in Berlin.

Notwendig sei eine komplette Neuausrichtung der Grundsicherung. Der Paritätische kündigte an, innerhalb der kommenden zwei Wochen ein eigenes Konzept zur Reform von Hartz IV vorzulegen.

Linkkspartei und Grüne erneuerten anlässlich der Zahlen ihre Kritik an den Sanktionen. LINKEN-Chefin Katja Kipping erklärte, die Zahl von fast einer Million zeige, »wie unmenschlich das Hartz-IV-System ist«. Während die Bundesregierung gegenüber Reichen und Konzernen stets nachsichtig sei, »wird den Menschen, die wenig haben, nichts, aber auch gar nichts gegönnt«.

Der Grünen-Sozialexperte Sven Lehmann erklärte, die Sanktionspraxis der Jobcenter »ist und bleibt weiter falsch«. Die Sanktionen belasteten das Klima in den Jobcentern und seien zudem »hoch bürokratisch«. Die Berechnung und Durchsetzung von Sanktionen gehe für das Personal in den Jobcentern mit großem Verwaltungsaufwand einher. Dies gehe zu Lasten von Beratung und Vermittlung. Agenturen/nd

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.