Das Gewaltvideo für unterwegs
Mit einem generellen Verbot von Mobiltelefonen versucht eine Düsseldorfer Hauptschule, Handy-Missbrauch zu verhindern
Unter Jugendlichen ist es Mode, Gewaltvideos mit dem Mobiltelefon zu speichern, anzusehen oder selbst zu filmen. Motive dafür sind Sensationslust und die Suche nach Anerkennung.
Der Tatort ist ein Klassenzimmer. Mehrere Jugendliche haben sich ein Opfer ausgesucht und schlagen scheinbar grundlos darauf ein, bis es am Boden liegt. Nur wenige Augenblicke dauert der willkürliche Gewaltausbruch. Dann ist alles vorbei und ein neues Gewaltvideo ist im Kasten - oder vielmehr im Handy. Als »Happy Slapping« (fröhliches Schlagen) werden solche Aktionen euphemistisch bezeichnet, die auch auf Internetplattformen wie You Tube und My Video zu finden sind.Unter Jugendlichen und Kindern kursieren derartige Videos seit etwa zwei Jahren. Aus Großbritannien war der fragwürdige Trend nach Deutschland geschwappt. Die Videos werden auf dem Schulweg und in den Pausen angesehen, getauscht oder gleich selbst produziert. Oftmals handelt es sich nicht um reale Gewaltakte, sondern um abgesprochene Inszenierungen oder verabredete Schlägereien. »Happy Slapping« ist aber nur eine Facette des Phänomens »Handy-Gewalt«. Im Internet finden sich alle nur erdenklichen Grausamkeiten gegen Menschen und auch Tiere: Folterungen und Hinrichtungen aus Kriegsgebieten, Vergewaltigungen und Sodomie. Hinzu kommt die ganze Bandbreite an pornografischen Darstellungen. Alles kann ohne viel Aufwand auf Computer und Handy heruntergeladen werden. Und im Gegensatz zu ihren Eltern und Lehrern wissen die Jugendlichen auch, wie es funktioniert.
Das Handy gehört zur Grundausstattung
»An solche Videos heranzukommen ist ganz einfach, die verbreiten sich wie ein Lauffeuer«, erzählt Alexander Esser. Der 16-Jährige Schüler besucht die neunte Klasse der Städtischen Gemeinschaftshauptschule Melanchthonstraße in Düsseldorf. Auch er hat schon derartige Videos zu Gesicht bekommen. »Da sieht man zum Beispiel, wie Menschen geköpft werden, oder Fäkaliensex.« Gut findet Alexander solche Videos nicht, sie seien zu grausam und eklig. »Aber man kann wenig dagegen machen, jeder hat ein Handy und es ist zu einfach, die Videos zu verschicken.« »Manchmal bekomme ich auch aus Versehen über Bluetooth etwas zugeschickt, wenn ich vergesse, es auszuschalten«, erzählt Alexanders Klassenkameradin Isabell Brune (15).
Tatsächlich gehört das Handy laut der Studie »Jugend, Information, (Muliti-) Media« (JIM-Studie) des Medienpädagogischen Forschungsverbundes Südwest aus dem Jahr 2006 zur »Mediengrundausstattung« von Jugendlichen. 92 Prozent haben mindestens ein Mobiltelefon zur Verfügung. 81 Prozent geben an, mit ihrem Handy ins Internet gehen zu können, 74 Prozent der Mobiltelefone verfügen über eine Kamera und etwa die Hälfte besitzt eine Infrarotschnittstelle oder Bluetooth zum kabellosen Datenaustausch. Gerade die beiden letztgenannten Funktionen tragen wesentlich zur Verbreitung von problematischen Inhalten bei. Denn über sie ist die kabellose und vor allem kostenfreie Datenübertragung möglich.
Eine dritte Variante von Handy-Missbrauch ist die Erpressung oder Demütigung von Schülern mit heimlich gemachten Aufnahmen, das so genannte »E-Bullying«. Einen solchen Fall gab es auch an der Düsseldorfer Gemeinschaftshauptschule. Zwei Schüler hatten kompromittierende Fotos von Schülerinnen gemacht und drohten, die Aufnahmen ins Internet zu stellen, berichtet Rektor Wolfgang Georg. Soweit kam es aber nicht. Die Täter wurden in einer Klassenkonferenz mit ihrem Fehlverhalten konfrontiert und verwarnt.
Aufgrund dieses Vorfalls, Berichten von Schülern über Gewaltvideos, häufigen Handy-Diebstählen und Beschädigungen und permanenten Unterrichtsstörungen durch Handy-Klingeln beschloss die Schulkonferenz im letzten Jahr ein generelles Verbot von Mobiltelefonen in der Schule. Schüler, die gegen das Verbot verstoßen, müssen ihr Handy abgeben. Nach einer Woche können es die Eltern wieder bei Schulsekretärin Rosa Krause abholen. Nicht immer stößt diese Maßnahme auf Verständnis bei den Eltern, sagt Krause. Erst wenn sie die Gründe für die Handy-Konfiszierung und das Handy-Verbot erläutert, zeigen sich die Eltern in den meisten Fällen einsichtig. Dabei wurden die Erziehungsberechtigten bereits bei Einführung des Verbots schriftlich über die Maßnahme und die Gründe dafür aufgeklärt.
Alexander und Isabell finden das generelle Verbot etwas zu streng, sehen aber ein, dass die Privatsphäre der Schüler geschützt werden muss. Beide berichten von Vorfällen, bei denen andere Schüler oder sie selbst gefilmt wurden. »Vor allem in den Pausen und vor und nach der Schule filmen manche, wie sie andere anmachen«, sagt Alexander.
Dabei zeigen die Ergebnisse der JIM-Studie, dass mit weitem Abstand das Schicken von SMS und Telefonieren als die wichtigsten Funktionen des Handys bewertet werden. Eine weitaus geringere Bedeutung messen die Jugendlichen hingegen dem Austausch von Fotos und Filmen bei. Gibt es also gar kein Massenphänomen Handy-Gewalt? Diese Frage ist nicht mit einem eindeutigen Ja oder Nein zu beantworten. »Man muss differenzieren«, sagt Albrecht Kutteroff von der Landesanstalt für Kommunikation Baden-Württemberg, die maßgeblich an der JIM-Studie beteiligt ist. »Wir haben ein wirkliches Massenphänomen bei denjenigen, die von solchen Videos wissen. Aber weitaus weniger Jugendliche geben an, sie schon einmal gesehen zu haben. Und noch einmal mit weitem Abstand folgen diejenigen, die zugeben, selbst Gewaltvideos auf dem Handy zu haben.«
In konkreten Zahlen ausgedrückt haben 86 Prozent der Jugendlichen mit Handy Kenntnis von »Handy-Gewalt«. 34 Prozent der Mobiltelefon-Besitzer geben an, jemanden zu kennen, der schon einmal ein problematisches Video bekommen hat, und nur noch sieben Prozent räumen ein, selbst solche Videos auf dem Handy zu haben. Darunter dreimal so viele Jungen wie Mädchen, mehr Ältere als Jüngere und deutlich mehr Jugendliche mit geringer Bildung.
»Auch wenn sich sieben Prozent nicht viel anhört, sind das bis zu 400 000 Jugendliche. Das zeigt, dass es ein gravierendes Problem gibt. Aber die Handy-Debatte darf nicht die Problematik und Auseinandersetzung mit den Ursachen von Gewalt verschleiern«, so Kutteroff weiter.
Suche nach sozialer Anerkennung
Nachdem die Medien das Problem Handy-Gewalt bereits vielfach thematisiert haben, rückt das Phänomen jetzt auch vermehrt in den Blickpunkt von Wissenschaftlern und Pädagogen. Die Tagung »Klingelt's endlich? Handy in Schule und Freizeit: Vom Missbrauch zur konstruktiven Nutzung«, organisiert von der Friedrich-Ebert-Stiftung in Berlin, bot eine Plattform zum Gedankenaustausch. Neben der JIM-Studie wurden dort die Ergebnisse einer noch nicht veröffentlichten Erhebung zum Ausmaß der Handy-Gewalt und Nutzungsmotiven vorgestellt. Als Hauptgründe für die Speicherung und Weiterverbreitung von Gewaltvideos nannte Prof. Petra Grimm von der Hochschule der Medien in Stuttgart »Unterhaltung, Sensationslust und die Suche nach sozialer Anerkennung«.
»Die Täter wollen ihr Selbstbewusstsein aufwerten«, vermuten auch Alexander und Isabell als Motiv für Schlägereien. Eine solche Gewaltaktion sei auch an der Schule Melanchthonstraße schon einmal geplant gewesen, hatte aber im Vorfeld durch Hinweise von Schülern verhindert werden können, so Rektor Georg. »Zu beweisen war den Betroffenen ihr Vorhaben aber nicht.« Überhaupt scheint das Phänomen »Handy-Gewalt« sehr unterschiedlich unter den Schülern verbreitet zu sein. Die 16-jährigen Naima Azdouffal und Denise Dzemail, beide aus der zehnten Klasse und Chefredakteurinnen der Schülerzeitung, berichten: »Früher war es schlimm. Aber seitdem die betreffenden Schüler weg sind, ist es viel besser geworden.« Von Gewalt- oder Pornovideos hätten die beiden noch nichts mitbekommen und auch in ihrem Freundeskreis seien solche Filme nicht verbreitet.
Aufklärung der Lehrer notwendig
Aus Sicht der Polizei handelt es sich beim »Happy Slapping« keineswegs um ein Massenphänomen. Bernd Gähl, Bezirksbeamter im Düsseldorfer Stadtteil Benrath und für die Gemeinschaftshauptschule zuständig, ist das Problem zwar bekannt. Aber zur Zeit liegen ihm keine Berichte von Schulen zu entsprechenden Fällen oder Anzeigen vor. Überhaupt gab es im letzten halben Jahr im Bereich Düsseldorf-Süd lediglich zwei angezeigte, aber nicht beweisbare Fälle von Handy-Missbrauch. Auch die Präventionsbeauftragte der Berliner Polizei, Susanne Bauer, sieht das Problem nicht als dramatisch an. Im Jahr 2005 seien 58 und im darauf folgenden Jahr 54 Fälle gemeldet worden. »Man muss zwischen den Jugendlichen differenzieren, die Videos anschauen und solchen, die wirklich Gewalt ausüben. Zudem sind viele der Aufnahmen gestellt«, sagte sie auf der Berliner Tagung.
Dort sollten unter dem Stichwort Medienkompetenz vor allem auch Möglichkeiten diskutiert werden, wie Jugendlichen ein verantwortungsbewusster Umgang mit dem Handy zu vermitteln ist. Für Prof. Hartmut Warkus vom Lehrstuhl für Medienpädagogik und Weiterbildung an der Universität Leipzig ist die Problematik der Handy-Gewalt aber eben keine Frage der Medienkompetenz, sondern generell von »Ethik und Moral«. Dennoch sei es wichtig, den Jugendlichen Alternativen zu Gewaltvideos aufzuzeigen. Ein gutes Beispiel für einen kreativen Einsatz der technischen Möglichkeiten der Mobiltelefone präsentierte Anke Brakemeier vom Medienkompetenzzentrum Szenenwechsel. Sie organisierte im letzten Jahr den ersten Neuköllner Handy-Battle. Bei diesem Wettbewerb waren Jugendliche aufgerufen, zu Themen wie »Star Wars - die Handys schlagen zurück« kurze Filme ohne Gewalt zu drehen.
Die Tagung zeigte, dass die Diskussion über das Phänomen Handy-Gewalt noch am Anfang steht und keine Patentrezepte in Sicht sind. Besonders die Frage, ob Handys an Schulen verboten werden sollten, war umstritten. Einigkeit hingegen herrschte über die Notwendigkeit, Eltern und vor allem Lehrer über die technischen Möglichkeiten und Funktionen der Mobiltelefone aufzuklären und ihnen deren Bedienung beizubringen. Mit diesem Wissen ausgestattet, könnten die Pädagogen ihren Schülern endlich auf Augenhöhe begegnen, anstatt wie bisher beim...
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