Was tut die Opposition am Bosporus?

Nach der Ankündigung für vorgezogene Neuwahlen in der Türkei gibt es viele Hürden, aber noch Hoffnung, meint Yücel Özdemir

  • Yücel Özdemir
  • Lesedauer: 4 Min.

Plötzlich ging es blitzschnell: In der Türkei werden Neuwahlen stattfinden. Darüber war zwar seit einiger Zeit spekuliert worden, doch Erdoğan hatte dies öffentlich vehement abgelehnt. Am 17. April dann brachte MHP-Chef Devlet Bahçeli nach einem Treffen seiner Fraktion den 26. August ins Spiel, einen Tag später wurde nach einem halbstündigen Gespräch zwischen Bahçeli und Erdoğan der 24. Juni als Wahltag festgelegt.

Jeder im Land weiß, dass Wahlen, die innerhalb von zwei Monaten abgehalten werden, keine vorgezogenen, sondern vielmehr überfallartige Wahlen sind. Selbst Erdoğans engeres Umfeld rechnete nicht damit, dass es so schnell gehen wird. Deshalb erlebte das Land einen kleinen Schock, als das Datum bekannt gegeben wurde. Dass eine Regelung in der Verfassung besagt, Neuwahlen sollen innerhalb von 90 Tagen abgehalten werden, war bis dato nicht zur Kenntnis genommen worden.

Yücel Özdemir

Yücel Özdemir wurde 1968 in der türkischen Stadt Varto geboren. Er lebt mit seiner Familie in Köln.

Neben seinem Mathematikstudium an der Universität Istanbul war Özdemir verantwortlicher Redakteur der linken Wochenzeitschrift "Gerçek" (Realität), der Vorläuferin der Tageszeitung "Evrensel". Nach der Veröffentlichung eines geheimen Militärprotokolls, in dem es um die Bespitzelung von Kurden, Aleviten und Linken ging, machte ihm die türkische Justiz den Prozess wegen „Landesverrats“. Er flüchtete im August 1993 nach Deutschland. Seit Jahren schreibt Özdemir für "Evrensel" Berichte und Kolumnen aus Deutschland. Er gehört zu den 50 Journalisten, die beim NSU-Prozess einen ständigen Beobachterplatz erhalten haben und teilt seinen Platz mit "neues deutschland".

Für die wohl verworrensten Wahlen in der Geschichte des Landes wurde also der Startknopf gedrückt. Mit ihnen wird nicht nur die Zusammensetzung des Parlaments neu bestimmt, sondern auch das Ein-Mann-Präsidialsystem eingeführt, das beim Referendum am 16. April 2017 beschlossen worden war. Die Wahlen werden gleichzeitig stattfinden. Die Präsidentschaftswahl ist dabei die wichtigere, weil die Rolle des Parlaments zukünftig schwächer sein wird.

Zur Kolumne von Yücel Özdemir in türkischer Fassung: Muhalefet ‘baskın seçimler’de ne yapacak?

Der wichtigste Grund für die Eile der Erdoğan-Bahçeli-Koalition ist dabei der anhaltende Stimmverlust für AKP und MHP. Obwohl sich beide Parteien verbündet haben, ist Erdoğans Wahlsieg nicht sicher. Die wirtschaftlichen Probleme vertiefen sich, Arbeitslosigkeit und Inflation steigen. Zudem könnte die durch den Afrin-Krieg aufgepumpte nationalistische Stimmung bis November 2019 - da die Wahlen eigentlich stattfinden sollten - verpufft sein.

Nun: Ist die Opposition bereit für die »Überfall-Wahlen«? Wird sich ein Bündnis formieren, das in der Lage ist, Erdoğan zu besiegen?

Nach der Verkündung der Neuwahlen war eines der meist diskutierten Themen, ob die neue Iyi-Partei - eine Abspaltung von der faschistischen MHP - bei den Wahlen wird antreten können. AKP-nahe Autoren argumentieren, dass die Partei die dafür nötigen Voraussetzungen nicht erfülle. Die endgültige Entscheidung fällt die Oberste Wahlbehörde. Umfragen zufolge könnte sie die Zehn-Prozent-Hürde überschreiten. Im Falle einer Allianz mit der Saadet-Partei - Vertreter der Milli-Görüş-Bewegung, aus der auch Erdoğan stammt - ist das Wählerpotenzial noch höher. Eine solche Allianz fürchtet das AKP-MHP-Bündnis. Es ist, wenn auch nicht wahrscheinlich, möglich, dass die Präsidentschaftskandidatin einer solchen Allianz, Meral Akşener, es in die Stichwahl schafft. Eine solche wird es dann geben, wenn keiner der Kandidaten mehr als 50 Prozent der Stimmen bekommt.

Und die kemalistische CHP? Die größte Verantwortung dieser Partei, die bei rund 25 Prozent liegt, besteht darin, einen Präsidentschaftskandidaten für diejenigen anzubieten, die Erdoğan ablehnen - weil der CHP-Kandidat am ehesten in die zweite Runde kommt. Ein Kandidat, der dann sowohl die Stimmen eines Iyi-Saadet-Bündnisses als auch die der HDP zu mobilisieren im Stande ist, kann sich Chancen ausrechnen.

Von Kurden und Linken wiederum wird erwartet, dass sie sich unter dem Dach der HDP zusammenfinden. Wichtig ist für sie dabei, weiterhin im Parlament vertreten zu sein. Bei den Präsidentschaftswahlen kommt der Partei eine Schlüsserolle zu. Es scheint, dass sie in der ersten Runde einen eigenen Kandidaten aufstellen wird, in der zweite Runde wird dann der Wunsch, Erdoğans zu schlagen, bestimmend sein.

Für alle Seiten wird der Wahltag ein Schicksalstag sein. Die Opposition hat keine andere Chance als sich zusammenzuschließen. Deshalb planen alle mit potenziellen Bündnissen. Die Zeit ist kurz, viele Hindernisse sind im Weg. Aber es gibt noch Hoffnung.

Aus dem Türkischen von Nelli Tügel

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