Skripals Datscha in Syrien
Der Propagandakrieg um den Anschlag auf einen Ex-Doppelagenten und das Schweigen der Bundesregierung
Wäre das Polittheater nicht mit Tod und Leid behaftet, so könnte man Radio Eriwan fragen: Stimmt es, dass Ex-Doppelagent Skripal seine Datscha in Syrien mit Chlor gereinigt hat? Die übliche Antwort: Im Prinzip ja, aber …
Sevrim Dagdelen, Vizechefin der Linksfraktion im Bundestag, mag darüber nicht lachen. Sie ist sauer. Mit anderen Abgeordneten ihrer Fraktion, hat sie am 9. April eine Kleine Anfrage zum »Fall Skripal« eingereicht. Und hält sie noch immer für geboten, weil die Bundesregierung sich zwar solidarisch auf die Seite Großbritanniens geschlagen und wie andere EU-Staaten russische Diplomaten ausgewiesen hat, doch bislang keinerlei substanzielle Begründung für ihr Verhalten vorlegte.
»Auf welcher Faktengrundlage Außenminister Heiko Maas die massiven Schuldzuschreibungen von seinem britischen Amtskollegen Boris Johnson übernommen hat«, sei ihr absolut schleierhaft. Und, so sagt Dagdelen: »Es ist nicht hinnehmbar, dass die Bundesregierung den Bundestag über die ihr offenbar vorliegenden Informationen bisher in keiner Weise unterrichtet oder informiert hat.« Ganz zu schweigen davon, dass die Öffentlichkeit auch nur ansatzweise aufgeklärt wird. Für die LINKE-Abgeordnete drängt sich die Frage auf, »welche Interessen Merkel und Maas verfolgen«.
Der Anschlag auf den einstigen Oberst des sowjetischen und später russischen Militärgeheimdienstes GRU, der als »Forthwith« für den britischen MI6 arbeitete, geschah am 4. März in seinem britischen Exil Salisbury. Bei einem Essen im Restaurant »Zizzi« ebenso vergiftet wurde seine Tochter. Inzwischen sind beide an einem geheimen Ort und wohl wieder »besser drauf«. Angeblich verwendeten die Attentäter den in der Sowjetunion entwickelten Nervenkampfstoff »Nowitschok« (Neuling). Ergo: »Die Fakten und Indizien weisen nach Russland«, ließ die Bundesregierung am 26. März wissen und kehrte den allgemeinen juristischen Grundsatz, im Zweifel für den Angeklagten, um. Zweifel an der britischen Darstellung des Geschehens gibt es jede Menge.
Die hätte das Kanzleramt ausräumen können - unter anderem mit Antworten auf Dagdelens Anfrage. Eigentlich hätte die Antwort am 23. April, also an diesem Montag, vorliegen müssen. Doch die Regierung verlangte eine Fristverlängerung bis zum Monatsende. Weil der Propagandakampf zwischen den westlichen Staaten und Russland aber täglich neue Blüten treibt, hat die Linksfraktion am 11. April zu den 26 Fragen 22 neue hinzugefügt. Man ahnt es: Die Regierung verlängerte ihre Antwortfrist vom 30. April auf den 14. Mai. Warum spielt sie auf Zeit?
Wesentlich schneller scheint dagegen ein perverser Typ in Russland zu sein. Er bietet Sonnenblumenöl der Marke »Nowitschok« an. Auf dem Emblem der Flaschen prangt das Signet des einstigen sowjetischen Geheimdienstes KGB: Schild, Schwert, Stern. Der Inhalt der Flaschen, so wird versichert, sei »bio«, das abgefüllte Produkt sichere ein »langes Leben«. Ekelhaft!
So wie der Lügenkrieg, der um den »Fall Skripal« tobt. Pausenlos gibt es weitere Schuldzuweisung - ohne Nennung von Fakten - von westlicher Seite. Vor rund einer Woche dann behauptete Russland höchst wissend, dass der Anschlag das Werk westlicher Geheimdienste war, Russland als Urheber also nicht infrage kommt. Kronzeuge für diese Anklage sollte das hoch angesehene Schweizer ABC-Labor in Spiez sein. Das hat in der Tat im Auftrag der Organisation for the Prohibition of Chemical Weapons (OPCW) Blut- und Umweltproben aus dem »Fall Skripal« analysiert. Angeblich, so behauptete kein geringerer als Russlands Außenminister Sergej Lawrow, sei dabei nicht nur der Stoff A-234 - der zur Gruppe der sowjetischen Nowitschok-Gifte gehört - sondern auch der Kampfstoff BZ (3-Chinuclidinylbenzilat) nachgewiesen worden. BZ lagerte im Kalten Krieg ausschließlich in Arsenalen der USA und anderer NATO-Staaten.
Doch Russlands Gegenattacke endete, bevor sie richtig begonnen hatte. Die russischen Dienste hatten, so man dem Spiezer Labor folgt, ihre Hausaufgaben nicht gemacht. Denn zu den strikten OPCW-Kontrollmechanismen gehört, dass die beauftragten Labore jeweils mehrere Proben erhalten. Die sind zwar ähnlich beschaffen, enthalten im ersten Fall aber keinen chemischen Kampfstoff und im zweiten Fall einen anderen, der extra der Probe beigefügt wurde. So will die OPCW sichergehen, dass objektiv und fehlerfrei gearbeitet wird.
Der nächste »Beweis« aus London ließ nicht lange auf sich warten: Wer zulässt, dass die syrische Armee bei den Kämpfen um Ost-Ghuta Chlorgas einsetzt, der bringt auch nach Großbritannien abgeschobene Ex-Agenten um. Dümmer geht’s nimmer. Doch erstaunlich - Moskau nahm den Ball auf und teilte in der vergangenen Woche mit, dass syrische Soldaten bereits am 8. März in Ost-Ghuta Behälter mit Chlor aus deutscher Produktion von der Firma Merck-Schuchardt aus München gefunden haben. Dazu gab es ein Video von einem Kellerlabor, das wahlweise von der Al Nusra-Front oder der Dschaisch al-Islam, also der Islamarmee der Rebellen, betrieben worden sein soll. Das und mögliche von den syrischen Weißhelmen gefälschte TV-Bilder nach dem mutmaßlichen Chlorangriff, den die USA inzwischen zu einem Angriff mit dem tausendfach schlimmeren Sarin ausgeweitet haben, reichte, damit die Sprecherin des russischen Außenministeriums, Maria Sacharowa, ihren »Glauben an die Menschlichkeit bestimmter Staaten« verlor.
Es wäre naiv, den Anti-Assad-Banden keinen Giftangriff auf die als Schutzschild gehaltene Bevölkerung zuzutrauen, und sei es, um damit US-Raketenangriffe zu provozieren. Was ja geklappt hätte. Allein: Ein Beweis ist dieses Zutrauen nicht. Auch dass man in der Produktpalette von Merck-Schuchardt kein entsprechendes Produkt findet, widerlegt noch nicht die russische Beschuldigung. Man wird sehen, ob und wie die Experten der OPCW, die derzeit in Ghuta herausfinden sollen, ob es überhaupt einen Chlorgasangriff gegeben hat, auf den Fund reagieren.
Wer glaubt, das wäre das Ende des Propagandakrieges, der irrt. Gleich neben der 450 g-Chlor-Packung hat man Rauchgranaten gefunden. Hergestellt wurden die umgangssprachlich als Nebelkerzen bezeichneten Tarnmittel in - Salisbury. Richtig, das ist jener Ort, in dem Vater und Tochter Skripal vergiftet wurden.
Hallo, Sender Eriwan ... Doch nicht der, sondern die Bundesregierung ist gefragt.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.