Comeback eines Pragmatikers

Ein Gesprächsband mit Andrej Holm lotet dessen Verortung zwischen Utopie und Realpolitik aus

  • Fabian Schmitt
  • Lesedauer: 4 Min.

Vor gut einem Jahr sorgte der Fall Andrej Holm in Berlin für heftige Debatten. Kurz schien sogar die Zukunft der rot-rot-grünen Koalition an der Person des 1970 geborenen Stadtsoziologen zu hängen, der für wenige Wochen das Amt des Staatssekretärs für Wohnen bekleidete. Bis Holm sich schließlich zurückzog wegen der Diskussionen um seine Vergangenheit beim Ministerium für Staatssicherheit, wo er ganze zwei Monate während der Wendezeit als Auszubildender gearbeitet hatte. »Mein erzwungener Rücktritt spiegelt letztlich die Kräfteverhältnisse in der Stadt wider«, kommentierte Holm recht trocken den Vorgang.

Was hätte ein aus der Mieter*innen-Protestbewegung kommender Staatssekretär für eine linke Stadtpolitik bewirken können? Und was bedeutete Holms Rücktritt? »Den Hauptschaden haben damit das politisch Vorstellbare und der Glaube an die Möglichkeiten politischer Vernunft erlitten«, resümierte treffend ein Aktivist von der Initiative »Stadt von unten« kurz nach Holms Rücktritt.

Einen detaillierten Einblick in die damaligen Ereignisse und in die Biografie Andrej Holms, die ein zentraler Streitpunkt der Auseinandersetzung war, bietet der Band »Kommen. Gehen. Bleiben« in der Reihe »kritik und utopie« des österreichischen Mandelbaum-Verlags. Der Grazer Publizist Samuel Stuhlpfarrer hat mit Andrej Holm ausgiebig gesprochen und legt nun ein flott lesbares und überaus spannendes Buch über diese Zusammenkünfte vor.

»Ich bin Teil dieser Gesellschaft und möchte sie verändern«, so Holm, der diese und zwei weitere zentrale Botschaften während der Diskussion um seine Person vermitteln wollte. Nämlich, dass sich DDR-Biografien nicht mit Schwarz-Weiß-Kategorien erfassen lassen und dass er die DDR für ein autoritäres System hält, das er nicht mehr wiederhaben will. Dass Holm vor gut zehn Jahren selbst zur Zielscheibe geheimdienstlicher Überwachungen wurde und im Gefängnis saß, ohne dass sich irgendwelche strafrechtlich relevanten Vorwürfe bestätigt hätten, ist in der medialen Schlammschlacht um die Personalie vor gut einem Jahr kaum erwähnt worden. Das verwundert auch Andrej Holm selbst, wie er erzählt. Dabei war dieser Vorgang, bei dem 2007 vermummte SEK-Beamte Holms Wohnung mit gezogenen Waffen stürmten, während seine kleinen Kinder anwesend waren, ungeheuerlich. Untersuchungshaft, monatelange Kamera- und Telefonüberwachung bis hin zu Peilsendern an Autos folgten.

Im Gespräch mit Samuel Stuhlpfarrer werden diese Ereignisse ebenso wie die frühe Jugend Holms lebendig. Es geht um Erlebnisse in der Schule und musikalische Vorlieben für Dark-Wave-Musik, die Erfahrungen als Hausbesetzer in der Nachwende-Zeit, seine wissenschaftliche Tätigkeit und sein Engagement bei den Mieter*innenprotesten. Holm weiß konzis und selbst reflektiert zu erzählen. Die Kritik an der eigenen Person liefert er auch gleich mit: »Ich habe mich tatsächlich auch in einer historischen Verantwortung für die Aufarbeitung von DDR-Unrecht gesehen.« Wobei Holm sich wie viele Linksradikale hierzulande in den vergangenen 28 Jahren kritisch mit dem Stalinismus auseinandergesetzt hat. Das beinhaltete in seinem Fall auch, schon vor Jahren die eigene Vergangenheit als Stasi-Azubi auf einem szeneinternen Plenum öffentlich zu machen, wobei da die Reaktionen eher unspektakulär ausfielen.

»Kommen. Gehen. Bleiben« ist ungemein spannend zu lesen, was sicher auch mit der bewegten Biografie Holms zu tun hat. Neben den vielen Ereignissen, die hier eine Rolle spielen, wird auf gut 250 Seiten auch sein politisches Denken ganz praktisch nachvollziehbar. Darin spielt der Munizipalismus eine wichtige Rolle, der sich derzeit bei den »Recht auf Stadt«-Bewegungen großer Beliebtheit erfreut, im Sinn einer Verschiebung von Akteurskonstellationen im städtischen Rahmen. Es geht um das politisch Machbare. Insofern ist Andrej Holm ein praxisorientierter Pragmatiker. Für den Posten des Staatssekretärs wäre er aus bewegungspolitischer Sicht zweifelsfrei eine großartige Besetzung gewesen. Wobei auch für Andrej Holm bei allem Pragmatismus »politisches Intervenieren und Aktionismus immer auch von einer guten Dosis an utopischem Überschuss« lebt, wie er treffend sagt.

Die im April aufgekommenen Proteste haben einmal mehr gezeigt, dass die Mietenpolitik in Berlin, aber nicht nur dort, eine wichtige Rolle spielen wird. Der vorliegende Band bietet nicht zuletzt eine Auseinandersetzung mit diesem bewegungspolitisch so wichtigen Thema. Darüber hinaus kann Holms Rolle als Berater der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung spannend werden. Bei allem mitunter berechtigten Interesse an der Person Andrej Holm gilt es dann aber wieder, primär Politik in der Sache zu machen und nicht weiter Personalien durchzukauen. Das dürfte auch im Sinne Andrej Holms sein.

»Kommen. Gehen. Bleiben« - Andrej Holm im Gespräch mit Samuel Stuhlpfarrer, Mandelbaum-Verlag, 252 S., 16 €.

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