Tunesien: Islamisten liegen vorne
Geringe Beteiligung bei historischen Wahlen
An den ersten freien Kommunalwahlen in Tunesien seit der Revolution 2011 haben sich nur wenige Menschen beteiligt. Wie die Wahlbehörde Isie am Sonntagabend mitteilte lag die Wahlbeteiligung bei nur 33,7 Prozent, in der Hauptstadt Tunis sogar nur bei 26 Prozent. Einem Umfrageinstitut zufolge wurde die an der Regierung beteiligte islamisch orientierte Partei Ennahda bei der Wahl mit 25 Prozent stärkste Kraft; das offizielle Ergebnis soll aber erst in den kommenden Tagen verkündet werden.
Dem Umfrageinstitut zufolge kam die säkulare Partei Nidaa Tounès von Präsident Béji Caïd Essebsi mit 22 Prozent auf Platz zwei, die übrigen Parteien waren weit abgeschlagen. Die Wahlbehörde Isie bestätigte die Zahlen nicht. Ein Ennahda-Abgeordneter sagte, alles deute darauf hin, dass seine Partei stärkste Kraft geworden sei. Ein Vertreter von Nidaa Tounès räumte ein, dass seine Partei auf dem zweiten Platz gelandet sei. Mehr als 57 000 Kandidaten, die Hälfte von ihnen Frauen und junge Leute, hatten sich in rund 350 Gemeinden zur Wahl gestellt. Den Umfragen zufolge könnte die Ennahda-Kandidatin Souad Abderrahim die erste Bürgermeisterin von Tunis werden. Etwa 60 000 Polizisten und Soldaten sicherten den Urnengang in dem nordafrikanischen Land ab. Größere Zwischenfälle gab es nicht.
Staatschef Essebsi hatte am Samstag von einem historischen Tag für sein Land gesprochen. Erstmals seit dem Arabischen Frühling von 2011 könne das tunesische Volk seine Vertreter auf kommunaler Ebene wählen. Der 91-Jährige hatte die 5,3 Millionen Wahlberechtigten aufgerufen, ihre Stimme abzugeben. Ministerpräsident Youssef Chahed von Nidaa Tounès wertete die niedrige Wahlbeteiligung am Sonntag als »negatives Zeichen« und eine »deutliche Botschaft an die politisch Verantwortlichen«.
»Das Wichtigste ist, dass diese Kommunalwahlen stattgefunden haben«, sagte der Isie-Vorsitzende Mohamed Tlili Mansri gegenüber AFP. Auch er sprach von einem »historischen« Moment und äußerte zugleich die Hoffnung, dass die Wahlbeteiligung bei der nächsten Wahl höher ausfallen werde. Vor allem junge Leute gingen am Sonntag kaum zur Wahl. Die Jugendarbeitslosigkeit in Tunesien beträgt nach Angaben der Internationalen Arbeitsorganisation mehr als 35 Prozent.
Der Chef der Wahlbeobachtungsbehörde Mourakiboun, Rafik Halouani, sagte, er fürchte, dass junge Tunesier »Wahlen nicht mehr als Möglichkeit für Wandel ansehen«. Dies sei eine Gefahr für die Demokratie. Die 23-jährige Wählerin Kamilia Mlouki gab einen leeren Stimmzettel ab. »Ich bin schon 2014 in ihre Falle getappt, ich werde denselben Fehler nicht noch einmal machen«, sagte die arbeitslose Hochschulabsolventin.
Seit dem Sturz des autoritären Staatschefs Zine El Abidine Ben Ali Anfang 2011 fanden in Tunesien bereits Parlaments- und Präsidentschaftswahlen statt, die Kommunalwahlen wurden wegen logistischer Probleme und politischer Streitigkeiten aber vier Mal verschoben. Sieben Jahre nach dem Arabischen Frühling sind viele Tunesier wegen der anhaltenden wirtschaftlichen und sozialen Missstände in ihrem Land desillusioniert. Anfang des Jahres entlud sich die Wut über die Sparpolitik der Regierung in einer Protestwelle. Seit einer Serie islamistischer Anschläge 2015, die dem Tourismus schwer geschadet haben, gilt in Tunesien der Ausnahmezustand. Die nächsten Parlaments- und Präsidentschaftswahlen sind 2019 geplant. AFP
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