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Der Riese und der Zwerg
Linke in Europa und Lateinamerika wehren sich gegen EU-Mercosur-Freihandelsabkommen
»Democracia sob ataque« (portugiesisch für »Demokratie unter Beschuss«) steht auf einem großen Banner im Sitzungssaal des europäischen Parlaments. Darüber ist ein Bild des ehemaligen brasilianischen Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva, meist Lula genannt, zu sehen. Der Auftakt der Konferenz der Konföderalen Fraktion der Vereinten Europäischen Linken/Nordische Grüne Linke, kurz GUE/NGL, Ende vergangene Woche über das Freihandelsabkommen zwischen der EU und den Mercosur-Staaten Brasilien, Argentinien, Paraguay und Uruguay steht im Zeichen der Solidarität mit Lula. Der ehemalige Chef der linken Arbeiterpartei PT galt als aussichtsreichster Kandidat bei den Präsidentschaftswahlen im Oktober, bis ihn ein Gericht im Januar wegen Korruption zu zwölf Jahren Haft verurteilte. Seit Anfang April sitzt der Gewerkschafter nun in Haft. Ohne seine Kandidatur ist laut Umfragen der rechtsradikale Kandidat Jair Bolsonaro, bekannt durch seinen Schwulen- und Frauenhass sowie die Verherrlichung der Militärdiktatur, der Favorit.
Kritiker*innen sprechen daher von einem politisch motivierten Urteil und fordern Lulas Freilassung. »Was ihm widerfahren ist, ist ganz deutlich ein Staatsstreich«, ist die Europaabgeordnete Eleonora Forenza überzeugt. Die versammelten Politiker*innen und Aktivist*innen aus Europa und Lateinamerika teilen diese Meinung. »Lula wird nicht wegen Korruption inhaftiert, ihm wurde der Prozess gemacht, weil er ein Projekt der sozialen Gerechtigkeit verfolgt«, so Celso Amorim, seinerzeit Außenminister unter Lula und Präsident des Internationalen Solidaritätskomitees für Lula. Ohne Lula sei der Weg frei für eine rechte Regierung und radikal neoliberale Politik, zu der Amorim auch das Freihandelsabkommen in seiner jetzigen Form zählt.
»Man kann bei Freihandelsabkommen nicht nur die wirtschaftliche Situation in den betreffenden Ländern betrachten, man muss auch die soziale und politische Lage berücksichtigen«, meint der Europaabgeordnete und Handelsexperte der Linksfraktion, Helmut Scholz. Die wichtigsten Mercosur-Staaten Argentinien und Brasilien hatten zuletzt einen radikalen Rechtsruck erlebt. Neben der Inhaftierung Lulas gibt auch die Ermordung der afrobrasilianischen Politikerin und Menschenrechtlerin Marielle Franco Anlass zur Sorge. Die Sozialistin war im März in ihrem Auto erschossen worden, wenige Tage nachdem sie Vorsitzende der Kommission für die Aufklärung militärischer Interventionen in Brasilien geworden war und den brasilianischen Präsidenten Michel Temer scharf kritisiert hatte. Ihre Ermordung löste im ganzen Land Proteste aus.
»Brasilien ist nicht nur Weltmeister im Fußball, sondern auch bei ermordeten Menschenrechtsaktivisten«, kritisiert Taliria Petrone von der brasilianischen Partei für Sozialismus und Freiheit, PSOL. Politische Morde und Rassenmorde seien an der Tagesordnung. Zehntausende Jugendliche würden jährlich durch Polizeieinsätze in den Favelas getötet. Die meisten Todesopfer seien Afrobrasilianer*innen. Tatsächlich ist die Mordrate unter Brasiliens schwarzer Bevölkerung in zehn Jahren um 18 Prozent gestiegen, während sie sich unter den Weißen um zwölf Prozent verringert hat. Auch bei Frauenmorden sei Brasilien weltweit an fünfter Stelle, so Petrone. Betroffen seien vor allem schwarze Frauen sowie Trans- und Homosexuelle. »Marielle stand für all diese Frauen, sie war lesbisch, schwarz, Sozialistin und lebte in der Favela. Sie stand für die Ausgegrenzten, für den Widerstand gegen den patriarchalen brasilianischen Staat. Deswegen musste sie sterben.«
Auch in anderen lateinamerikanischen Staaten wie Argentinien sei die Rechtsstaatlichkeit in Gefahr, betont Guillermo Carmona, Abgeordneter des argentinischen Parteienbündnisses Frente para la Victoria (spanisch für Front für den Sieg). Die EU verhandele mit Regierungen, die systematisch Menschenrechte verletzen und gegen die Verfassung verstoßen würden. Doch trotz des düsteren Bildes, das Carmona und seine Kolleg*innen von der politischen Lage in Lateinamerika zeichnen, sehen sie das Freihandelsabkommen mit der EU auch als Chance, die progressiven linken Kräfte im Kampf gegen den Neoliberalismus zu vereinen. »Wir haben auch Hoffnung. Es gibt viele Menschen in Lateinamerika, die gegen den Neoliberalismus kämpfen.«
Dass das Freihandelsabkommen zwischen der EU und den Mercosur-Staaten maßgeblich ein neoliberales Machwerk ist, schließen die versammelten Politiker*innen aus den wenigen Informationen, die bislang aus den streng geheimen Verhandlungen durchgedrungen sind. Diese Intransparenz ist der europäischen Linksfraktion ein Dorn im Auge. Mit Spannung wird daher der Auftritt von Matthias Jørgensen, dem Leiter des in der Europäischen Kommission für die Handelsbeziehungen zu Lateinamerika zuständigen Referats, erwartet. In den seit 1999 laufenden Verhandlungen habe es in jüngster Zeit zwar Fortschritte gegeben, von einer Einigung sei man jedoch weit entfernt, so Jørgensen. Jede Seite habe Bereiche, die sie schützen möchte, bei der EU sei dies vor allem die Landwirtschaft und in den Mercosur-Staaten der Industrie- und Dienstleistungssektor. Es gehe darum, eine Win-win-Situation für beide Seiten herzustellen. Von dem Abkommen würden jedoch nicht nur Unternehmen, sondern auch die Bevölkerung profitieren, betont Jørgensen.
Für Carlos Bianco vom argentinischen Gewerkschaftsbund CTA ist das purer Hohn. Verschiedene Folgeabschätzungen würden zeigen, dass im Falle von Argentinien durch das Handelsabkommen die Exporte sinken und die Importe steigen würden - wirtschaftspolitisch betrachtet eine fatale Entwicklung, meint er. Laut Studien würden zudem Hunderttausende Arbeitsplätze verloren gehen und die von der EU geforderte Verschärfung des Patentrechts für Medikamente würde bei Medikamenten gegen HIV und Hepatitis zu Preissteigerungen von bis zu 25 Prozent führen. »Herr Jørgensen hat dafür zu sorgen, dass die europäischen Kapitalinteressen gewahrt werden. Dabei hat er gute Arbeit geleistet. Für die Bürgerinnen und Bürger von Lateinamerika ist das jedoch ein katastrophales Abkommen.« Die Verträge müssten überarbeitet werden, um die Kluft zwischen den Ländern nicht weiter zu vergrößern, fordert Bianco.
Zustimmung erhält er von Lilián Galán, Abgeordnete der linken Regierungskoalition Frente Amplio in Uruguay. »Wir werden keinem Vertrag zustimmen, der die bestehenden Asymmetrien nicht berücksichtigt und uns auf einen Rohstofflieferanten reduziert«, versichert Galán, die auch Mitglied des Parlaments von Mercosur ist. »Hier verhandeln ein Riese und ein Zwerg.« Das Abkommen sei ein neokolonialistischer Pakt, der keinerlei sozialpolitische oder ökologische Elemente beinhalte. »Es geht um die Schaffung einer neuen neoliberalen Weltordnung, darum, den Staat durch den Markt zu ersetzen. Wir wollen jedoch gerechtere und solidarische Gemeinschaften.«
Die Reise der Autorin wurde mit Mitteln der GUE/NGL untertsützt.
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