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Vertreibungen und Entführungen in Afrin
Syrische Binnenflüchtlinge werden in den kurdischen Kanton gebracht / SDF nimmt Kampf gegen Terrormiliz IS wieder auf
Im nordsyrischen Afrin nehmen die türkische Besatzungsarmee und ihre verbündeten syrischen Milizen offenbar demografische Veränderungen vor. Das UN-Amt für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten bestätigte am Dienstag, dass die Türkei palästinensische Flüchtlinge in dem ehemaligen selbstverwalteten Kanton ansiedelt. »Am 4. Mai wurde ein Konvoi mit 618 Binnenflüchtlingen, die Mehrheit laut Berichten palästinensische Flüchtlinge, zu einem Lager nahe dem Dorf Deir Balut in Afrin gebracht«, erklärte das UN-Amt in einer Mitteilung. »Hunderte palästinensische Flüchtlinge, die vor dem Angriff des syrischen Regimes auf das Jarmuk-Flüchtlingslager in Süd-Damaskus geflohen sind, wurden in Lager in Nordaleppo und Afrin gezwungen«, erklärte auch die Wissenschaftlerin und Syrien-Spezialistin Elizabeth Tsurkov. Laut der oppositionellen syrischen Nichtregierungsorganisation »Assistierende Koordinierungs-Einheit« (ACU) wurden bereits 6000 Binnenflüchtlinge aus dem Raum Damaskus in Afrin angesiedelt.
Die syrisch-kurdische Miliz YPG sprach sich scharf gegen einen Bevölkerungsaustausch in Afrin aus. »Die Ansiedlung dieser Familien in Afrin ist eine fundamentale Menschenrechtsverletzung und ein klarer Verstoß gegen internationales Recht«, hieß es in einer Erklärung. Laut der UN wurden durch den türkischen Einmarsch in Afrin zwischen Januar und März rund 137 000 Menschen vertrieben. Viele von ihnen leben unter schlechten Lebensbedingungen in Flüchtlingslagern nahe der Stadt Tell Rifat. »Soweit wir wissen, wird diesen Menschen nicht erlaubt, in ihre Wohnungen zurückzukehren«, sagte jüngst Heather Nauert, Sprecherin der US-Regierung. Die YPG hatte zu Beginn des Einmarsches davor gewarnt, dass die Türkei nach einer Besatzung versuchen werde, arabische und islamistisch geprägte Flüchtlinge in dem mehrheitlich kurdisch bewohnten Gebiet anzusiedeln.
Im besetzten Afrin mehren sich zudem Meldungen über Gewalttaten an Zivilisten. Mohamed Jamil, der Ko-Vorsitzende des Menschenrechtsbüros von Afrin, wurde laut der nordsyrischen Politikerin Ilham Ahmed vor zwei Monaten entführt. Bis heute würde es keine Spur von ihm geben. Den Verwaltungsangestellten Hanan Na'san habe man jüngst nach Angaben der kurdischen Nachrichtenagentur »ANHA« tot und mit Folterspuren aufgefunden.
Laut dem politisch unabhängigen »Afrin-Medienzentrum« wurden auch Bewohner Opfer der Gewalttaten, die nicht Teil der Rojava-Institutionen waren. So hätten türkische oder mit ihnen verbündete syrische Truppen den kurdischen Sänger Aslan Can und den unabhängigen Journalisten Ahmad Shafi Bilal verschleppt. Der 50-Jährige Sänger Abdelkader Kalsli und sein Sohn Khalid Kalsli sollen umgebracht worden sein. Auch Frauen sind betroffen, was bei Anwohnern Sorgen über sexuelle Gewaltverbrechen steigen lässt. Laut der kurdischen Nachrichtenagentur »ANHA« wurde Bushra Yousef Sheikho entführt, das »Afrin-Medienzentrum« berichtete von einer verschleppten Zozan Bashir Suleiman.
Die YPG führt seit ihrem Rückzug im März einen Guerilla-Krieg gegen die türkische Armee und ihre Verbündeten in Afrin. Jüngst bekannte sie sich zu einem Anschlag auf den Rebellenoffzier Jamal al-Zakhlool. Laut der in London ansäßigen Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte soll er für den Aufbau der neuen Polizei in Afrin sowie für die Einrichtung von Scharia-Gerichten verantwortlich gewesen sein sollen.
Das kurdisch-arabische Militärbündnis »Syrisch-Demokratische Kräfte«, dem auch die YPG angehört, hat derweil Anfang Mai seine Kampfhandlungen gegen den Islamischen Staat wieder aufgenommen. In der Provinz Deir ez-Zor gehen die Milizen gegen die letzten Stellungen der Terrormiliz entlang des Euhprahts und der syrisch-irakischen Grenze vor. Laut dem US-Sondergesandten der Anti-IS-Koalition, Brett McGurk, sollen sich mehrere hochrangige IS-Anführer in den zwei verbliebenen Kesseln verstecken. Der Diplomat erwartet Auseinandersetzungen, die mehrere Monate andauern könnten. Die Offensive zur Befreiung der Region begann bereits im September 2017, wurde jedoch durch den türkischen Angriff auf Afrin im Januar unterbrochen.
»Die USA bleiben in Syrien, bis der IS besiegt und das sogenante Kalifat komplett vernichtet ist«, bekräftigte McGurk am Dienstag. Da dieses Ziel zumindest rein militärisch bald erreicht sein dürfte, steht die Frage in Raum, wie lange die USA ihre Bündnisverpflichtung gegenüber der SDF noch aufrechterhalten werden. Möglicherweise spielen in Rojava zukünftig andere Partner der Anti-IS-Koalition eine stärkere Rolle. Rezan Gilo, ein hochrangiger SDF-Militär, erklärte im April gegenüber Medien, dass nun neben US-Amerikanern auch Dutzende französische Truppen in Nordsyrien im Einsatz sind.
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