Der Bodensatz blieb unangetastet
Antisemitismus im Arbeiter- und Bauernstaat? Eine Ausstellung von Jugendlichen, die provoziert
Was sie herausfanden, ist auf einer Tafel in der Ausstellung über Antisemitismus in der DDR zu lesen, die die Amadeu Antonio Stiftung vor einigen Wochen in Berlin eröffnete. Insgesamt 74 Jugendliche in acht ostdeutschen Städten haben an der Wanderausstellung mitgewirkt, Polly und Carolin gehören zur Berliner Projektgruppe, die sich mehr als ein Jahr lang intensiv mit dem Thema Terrorismus beschäftigt hat. Ihre Tafel erforscht das Verhältnis der DDR-Elite zu terroristischen Palästinenserorganisationen wie der Abu-Nidal-Gruppe, die sich 1974 von der PLO abgespalten hatte. In der Zeit ihres Bestehens verübte die Terrorgruppe über 100 Anschläge gegen jüdische Einrichtungen in 20 Ländern, bei denen zahlreiche Menschen ermordet wurden.
In einem Café im Berliner Bezirk Friedrichshain erzählen die beiden lebhaft von ihrem Projekt. Viele Seminare hätten sie besucht, meint Polly mit einem schelmischen Blick auf die andere Seite des Tischs, wo Konstanze Ameer sitzt, die die Berliner Gruppe betreut hat. »Ganz schön viel Inhalt«, will die Geste wohl sagen, dann erzählt Polly weiter, wie sie bei den Seminaren über die Geschichte Israels und der DDR sprachen oder darüber, was Antisemitismus ist.
Von der großen Menge Stasiakten, die sie später nach Material durchsuchten, seien viele kaum brauchbar gewesen, erzählt Konstanze Ameer, einige jedoch hätten sich als hochinteressante Fundstücke erwiesen. Die Gruppe fand zum Beispiel einen Bericht der Abteilung XXII (Terrorabwehr) vom Mai 1987, in dem von »speziellen Ausbildungsmaßnahmen« für die »Händler-Organisation«, so die Tarnbezeichnung für die Abu-Nidal-Gruppe, die Rede ist. Im »Objekt 74« in Eberswalde, etwa 40 Kilometer östlich von Berlin, habe die Organisation »politisch-operative Schulung« erhalten, heißt es darin, aber auch etwa eine »militärische Grund- und Spezialausbildung« oder Kenntnisse im »Raketen- und Geschoßwerfereinsatz«.
Faktisch belegen die Erkenntnisse, dass die DDR durch derlei Unterstützung palästinensische Terrorakte mitzuverantworten hatte. Aber wie rechtfertigte sie dies vor sich selbst? Polly versucht eine Antwort: »Das Problem ist, dass es keine international gültige Definition für Terrorismus gibt«, erklärt sie, »bis heute nicht.«
Mit Hilfe der Akten hat sie herausgearbeitet, wie die DDR den Begriff bestimmte. »Gegen den Sozialismus gerichtet« sei Terror dort verstanden worden, während beispielsweise der »imperialistische Gegner« USA darunter »politisch motivierte Gewaltakte« fasste, »die sich gegen eine Regierung oder ein System richten«. Polly spult die Definitionen locker ab: Die DDR, erklärt sie weiter, habe sich vorbehalten, »Minderheiten zu unterstützen«, die in ihrer Logik ein berechtigtes Interesse hatten, gegen die Unterdrückung durch Staat oder System vorzugehen.
Antisemitischer Antizionismus
Das klingt kompliziert. »Man hat zwischen Antisemitismus und Antizionismus unterschieden«, ergänzt Konstanze Ameer, und das Bild fügt sich zusammen. Während man offenbar den Antisemitismus einerseits als Bestandteil der NS-Ideologie ächtete und als schwarzes Kapitel der Vergangenheit überwunden glaubte, begriff man andererseits die Aktionen der PLO-Splittergruppe als Kampf des unterdrückten palästinensischen Volkes gegen den »imperialistischen Aggressor« Israel. »Für die DDR war das, was Abu-Nidal betrieb, eine Art Freiheitskampf«, bringt es Konstanze Ameer auf den Punkt.
Warum unterstützte die DDR »alle möglichen nationalen Befreiungsbewegungen, dämonisierte dagegen aber den Zionismus«, fragt Anetta Kahane, die Vorsitzende der Amadeu Antonio Stiftung, kritisch. »Der Antizionismus in der DDR kam oft antisemitisch daher«, denkt sie. Man habe die eigene Vergangenheit - auch das »neue Deutschland« war schließlich Teil des nationalsozialistischen Täterkollektivs gewesen - nicht ausreichend aufgearbeitet, lautet denn auch eine der Grundthesen der Ausstellung.
»Seine Bürgerinnen und Bürger hatte der Staat allesamt zu Antifaschisten und "Siegern der Geschichte" erklärt«, liest es sich auf der einleitenden Tafel. Deshalb habe man keinen Grund gesehen, sich mit dem Erbe von Nationalsozialismus und Antisemitismus »in den Köpfen der Menschen« auseinanderzusetzen. Der »Bodensatz« des Antisemitismus sei somit faktisch aber unangetastet geblieben, beschreibt Anetta Kahane das Problem, das daraus resultierte. Ihrer Meinung nach habe unter anderem auch diese fehlende Aufarbeitung dazu geführt, dass Rechtsextremismus und Antisemitismus nach der Wende im Osten Deutschlands neue Blüten treiben konnten.
Ausgemerzt worden war das Übel nicht, eher ausgeblendet, scheint es auch Heike Radvan, die die Ausstellung leitet. Bei Recherchereisen durch den Osten der Republik erlebte sie immer wieder dieselbe Reaktion. »"Antisemitis- mus?", sagen die Leute, "das hat es doch bei uns gar nicht gegeben. Da müssen sie sich irren".« So kam es schließlich auch zum Namen der Ausstellung: »Das hat's bei uns nicht gegeben!«. Der Titel greife auf, »dass über die vielen Schmierereien und antisemitischen Vorfälle, die es die ganze Zeit ja gab, nicht geredet wurde«, erklärt Heike Radvan.
Die insgesamt 38 Ausstellungstafeln zeigen, dass es »das« eben doch gegeben hat: Eine Chronik antisemitischer Vorfälle ist dort aufgelistet, die Schändung jüdischer Friedhöfe wird thematisiert, die Berichterstattung ostdeutscher Medien zu den Nahost-Kriegen, bei der die israelische Seite immer wieder mit den »Hitlerbarbaren« verglichen wird. Eine Tafel beschreibt, wie 1971 im brandenburgischen Jamlitz ein Massengrab ehemaliger jüdischer KZ-Häftlinge entdeckt wurde, und wie MfS-Mitarbeiter, bevor die menschlichen Überreste entgegen jüdischem Brauchtum feuerbestattet wurden, ihnen insgesamt »1080 g Zähne und Zahnprothesen« entnahmen. Auch drei Filme gehören zur Ausstellung: Bewohner von Hagenow in der Nähe von Schwerin erinnern sich darin an einen verschwundenen jüdischen Friedhof, über eine ehemalige Zyklon B-Fabrik in Dessau wird informiert. In Leipzig haben Jugendliche Jüdinnen und Juden dazu befragt, wie sie Antisemitismus zu DDR-Zeiten wahrgenommen und erlebt haben.
Mehrfach hätten sie nun schon den Vorwurf bekommen, sie wollten mit der Ausstellung die DDR als antifaschistischen Staat delegitimieren, erzählt Heike Radvan. »Es geht uns nicht um pauschale Aussagen«, betont sie deshalb. »Wir haben mit Jugendlichen lokale Fallgeschichten recherchiert. Die weisen darauf hin, dass es Probleme in Bezug auf Antifaschismus gegeben hat und darüber muss man sprechen.« Deshalb findet sie »es gut, dass es gelungen ist, mit der Ausstellung eine Diskussion zu initiieren«.
Auch wenn die Debatten alles andere als reibungslos verlaufen. »Als ich heute hierherkam, wusste ich, dass dies ein schwieriger Abend werden würde«, meldete sich etwa eine ältere Dame bei einer Diskussionsveranstaltung Anfang dieser Woche im Rathaus Lichtenberg in Berlin, wo die Ausstellung bis vor Kurzem hing, zu Wort. Sie selbst, geboren 1925, habe im NS keinen Widerstand geleistet, habe erst durch die DDR ihr Bewusstsein für das geschehene Unrecht geschärft. Doch gleichzeitig erscheint es ihr schleierhaft, wie so kurz nach dem Ende des Nationalsozialismus in der DDR quasi über Nacht ein Volk der Antifaschisten hätte entstehen sollen. »1945 standen doch noch mindestens 80 Prozent hinter Hitler«, meint sie, »90«, raunen mehrere im Publikum zustimmend.
»Wir waren immer die Guten«, sagt eine andere Frau von Anfang 40, »wir sind zu den KZ-Gedenkstätten gefahren, aber ich kam mir immer vor wie eine Französin.« Als ob sie, obgleich doch Deutsche, keine Verantwortung für die Geschichte übernehmen musste. Auch im Unterricht, erinnert sie sich, sei »keine Verbindung zwischen dem Holocaust und der Gründung Israels« hergestellt worden.
Manche beginnen nachzudenken
Ein Mann in den hinteren Reihen des vollen Saals wirft den Ausstellungsmachern Einseitigkeit vor - eine Kritik, die sich noch öfter wiederholt. Dass es keine Auseinandersetzungen mit den Ursachen geben haben soll, wenn es zu antisemitischen Vorfällen kam, kann und mag er sich nicht vorstellen. Doch darüber diskutieren will er nicht, verlässt den Raum, nachdem er fertig geredet hat.
»Schade« findet Heike Radvan das. »Es gib Leute, die der Ausstellung pauschalisierend etwas vorwerfen, was sie gar nicht sagt und die auch nicht zur Diskussion bereit sind.« Sie erzählt, wie bei der Veranstaltung ein Mann auf sie zugekommen sei, der »hat mir die ganze Zeit seine Meinung zur DDR als antifaschistischer Staat erzählt, mich aber gar nicht zu Wort kommen lassen«. Wie sie damit umgeht? »Da bin ich ehrlich gesagt etwas ratlos, diese Menschen können wir nicht erreichen. Die haben ein geschlossenes Weltbild«.
Das mache sie traurig, jedoch, betont sie, sei dies »eine Minderheit«. Andere seien kritisch, stellten aber auch Fragen, begännen nachzudenken, Beispiele aus der eigenen DDR-Vergangenheit zu erzählen. Ob das am Alter liegt? Erstaunlicherweise nicht, meint Heike Radvan, »obwohl das zunächst auch meine These war«. Der besagte Mann sei vielleicht fünf Jahre älter als sie gewesen, erzählt die Anfang-30-Jährige. Dagegen seien ältere Leute zu ihr gekommen, die erfreut waren, »dass endlich darüber geredet wird«.
Wichtig erscheint Heike Radvan, dass die Auseinandersetzung auf lokaler Ebene weitergeführt wird. Als nächstes ist die Ausstellung in Eberswalde zu sehen, dort, wo auch das Objekt 74 steht. Schön wäre, wenn die Ausstellung auch dort das sein kann, als das sie ein Berliner Besucher im Gästebuch treffend beschrieb: »Ein Anfang«.
www.projekte-gegen-antisemitismus.de
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