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Der weise Anzug
Zum Tod des US-Schriftstellers Tom Wolfe
Heiner Müller hatte einen Lieblingswitz. Ein Clown bewirbt sich beim Zirkus, schlägt dem Direktor »die ganz große Nummer« vor: volles Zelt, die Leute eng an eng, die gesamte Manege werde nun mit Schlamm und Scheiße gefüllt. Und oben an der Decke hängt eine gigantische Eisenkugel. Die werde nun ausgeklinkt, wuchte herunter - und binnen Sekunden seien alle Zuschauer von oben bis unten eingesaut. Der Direktor, verwirrt: »Was denn, das ist alles?!« Der Clown triumphierend: »Keinesfalls. Denn jetzt komme ich - ganz in Weiß!«
Das Extravagante gegen das Extraordinäre. Der schadenfrohe Dandy gegen die Dämonie des Banalen. Weiß gegen Scheiß. Entschiedenste Abgrenzung als Ausdruck gesteigerter Selbstachtung. So gab sich Tom Wolfe in seinen weißen Anzügen - waren sie mal dunkler, dann höchstens cremefarben, und dieses Creme setzte sich mehr und mehr im pergamentenen Gesicht des Schmächtigen fort. Wie durchsichtig wirkte er. Der Trotz, zu dem er sich entschlossen hatte: wie eine ihm völlig fremde Kraftanstrengung, die er mit geradezu plüschener Eleganz übermalte. Die Blässe seiner Augen: wie eine Tarnung, ja Abwiegelung - wo dieser Schriftsteller und Reporter, eher anmutend wie ein Innenschausteller, doch zu den schärfsten Beobachtern zählte.
Was er beobachtete: das garstige Draußen US-amerikanischen Abfalls, also: die Gesellschaft selbst. »Das Zusammenleben von Millionen Menschen in den Städten, das ist eine erzwungene Vermengung, bei der wir uns gegenseitig annullieren.« Im Aufkommen von Massen am Horizont der modernen Geschichte sah Wolfe den Einzug und das gleichzeitige Scheitern des Sozialen. Beschrieben in Romanen, Reportagen, auch flammenden Manifesten wie dem Text »Die Jagd auf das milliardenfüßige Biest«, erschienen just im November 1989: im Abschiedsbeben des 20. Jahrhunderts ein Weckruf wider die verfeinerte Verpuppung der Literatur, wider die Interieur-Poesie, wider alle Sofakissen-Süffisanz - der er doch selber, äußerlich und im eigenen Wohnambiente, so sehr zu entsprechen schien.
Aber der da im weißen Anzug seine Fremdheit feierte, scheuerte sich das Empfinden wund an Kapital und krimineller Energie der Tonangebenden. »Sogar unsere Träume haben die Konsequenz gezogen: Waren sie früher hochtrabend, so sind sie jetzt gleichgültig, sie sind nicht mehr bereit, die Realität freizusprechen.« So heißt es in »Das bonbonfarbene tangerinrot-gespritzte Stromlinienbaby«. Er hasste die Reichen, er mochte aber auch die Linken nicht, die »allzu bereit sind, die notwendige Grobheit des Kampfes ins eigene Gemüt sickern zu lassen.«
Natürlich wird Wolfe - 1930 in Richmond, Virginia, in einer Akademikerfamilie geboren, Promotion an der Yale University mit einer Arbeit über kommunistische Literatur - stets in einem Atemzug mit seinem Roman »Fegefeuer der Eitelkeiten« genannt werden. Moloch Manhattan, das fauchende Kapital, die Dollararroganz, das Leben ein einziger Überziehungskredit. Die Gier: eine wahre Virusrevolution. Das ist groß, weil sich durchs Buch, bei aller Härte von Gewalt und Beraubung, eine faszinierende Spur Anmut zieht. Noch als unerbittlicher Schmutzwühler zieht Wolfe den weißen Anzug nicht aus. Er klärt auf und bleibt leicht. Vor geraumer Zeit übrigens erschienen Briefe, die Moabit-Häftling Erich Honecker in den frühen Neunzigern mit einer Frau aus Bad Homburg wechselte - er empfiehlt ihr, unbedingt Wolfes Roman zu lesen.
Eines der späten Bücher, »Back to Blood«, offenbart die Einsicht, dass ein Lächeln über die Leute nicht genügt, es muss ein prustendes Lachen sein - Wolfe entwirft im Alltag eines Psychiaters und dessen Kampf gegen die Sexsucht ein sarkastisches Porträt unseres pornografischen Gemüts, das sich ausdauernd zwischen Verklemmung und Ausschweifung verirrt und verwirrt. Ein Miami-Roman über die Unfähigkeit, Dinge einfach zu sehen, und über die gleichzeitige Unfähigkeit, mit der Kompliziertheit der Dinge umzugehen. Ein Panorama, bei dem der Autor gleichsam jede Seite mit dem offenherzigen Geständnis versieht, unbedingt auch amüsant und entspannend sein zu wollen. Trivial. Na und? Über viele Jahre musste er die Häme der Kollegen ertragen: etwa von Mailer, Updike. Sie blickten herab, als schriebe da einer nicht wahr, sondern nur Boulevard. Der weiße Anzug lächelte und schwebte weiter.
In seinen Romanen (»Ein ganzer Kerl«, »Ich bin Charlotte Simmons«) schwelgte er in grammatikalischen Spielereien und stilistischen Ausschmückorgien, trieb die Comic-Sprache durch die Kapitel. Als er für sich begonnen hatte, aus Reportage und Literatur die Trennfäden zu entfernen, nannte man das »New Journalism« - so, wie man alles gern mit Neuheitsstempel versieht, was sich doch lediglich auf die Altlust an Grundwerten besinnt. Ein guter Reporter erzählt eine Geschichte, ohne über sie zu siegen - eine Geschichte, die in der Zeit lebt und ihr zugleich ein wenig entkommt. Nichts weiter tat, ähnlich Truman Capote, auch Wolfe, der im Krisenjahr 1961 für die »New York Times« aus Kuba berichtete, sich auf die Spur kalifornischer Autofreaks begab, mit NASA-Experten und Bauhaus-Architekten abrechnete. »The Electric Kool-Aid Acid Test« und »Radical Chic«: das Erlebnis der Hippie-Kultur, LSD-Rausch und Solidarität mit den Black Panthers. Flower-Power als Sternschnuppe der Freiheit, »aber alles Glück blieb eine Maske«.
Nun ist Tom Wolfe im Alter von 87 Jahren gestorben. Wollte ein Dandy früherer Zeiten einfach nur stolze Außenseiterschaft, will der moderne Narr mehr: die Anerkennung als Star. Er will Randerscheinung sein inmitten. Wolfe beherrschte das. Und er schrieb und schrieb und schrieb. Bis zuletzt. Zweifelte aber, ob sein Geist noch Kraft besäße. So brachte er das Grundsätzliche beim Altern auf den Punkt: »Vielleicht ist Sterben nicht das Problem, sondern die Fähigkeit, auch wirklich zu verschwinden, rechtzeitig.« Der weiße war auch ein weiser Anzug.
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