- Politik
- Beziehungen zwischen Deutschland und Russland
Abgleich der Interessen in Sotschi
Russlands Präsident und deutsche Kanzlerin suchen Gemeinsamkeiten in schwierigen Zeiten
Der Verkäufer am riesigen Moskauer Taganka-Pklatz, wo ich in diesen Maitagen eine Telefonkarte erwerbe, sieht Deutschland schon als Fußball-Weltmeister. »Wer sonst?« Ich lobe die Sbornaja für ihre Siege bei der Eishockey-WM. Schließlich werden mir »Grüße an Frau Merkel« aufgetragen. Ich gebe welche an Wladimir Putin in Auftrag. Wir verabschieden uns heiter nach entspannter Annäherung.
Bei Deutschlands Langzeit-Kanzlerin und Russlands Langzeit-Präsidenten ginge das sicher zu weit. Sie gehen als alte Bekannte in ihre wohl schwierigste jeweils vierte Amtszeit. Die Ost-West-Beziehungen sind nicht nur gespannt, sondern vergiftet. Der Gesprächsfaden ist nie völlig gerissen, doch immer dünner geworden. Insbesondere der NATO-Vormarsch mit deutscher Beteiligung an Russlands Grenzen und die Ukraine-Politik des Kreml mit Übernahme der Krim schürten Misstrauen bis hin zur Feindseligkeit. Washington hat dazu unter den Präsidenten Barack Obama und Donald Trump nach Kräften beigetragen. In Syrien befinden sich Russland und westliche Alliierte in Schussweite. Sanktionen und Gegensanktionen ersetzen Politik. Diplomaten werden zu Dutzenden rausgeworfen. Erst vom Westen, dann von Russland. Dazu ein Propagandakrieg.
»Was denkt man in Deutschland über uns Russen«, werde ich in diesen Moskauer Maitagen nicht nur einmal gefragt. »Wir sollen an allem schuld sein, auch an den unsinnigsten Sachen«, meint Olga Maximowna, die ihre Rente mit Stadtführungen aufbessert. »Können Sie sich vorstellen, wie man sich da fühlt?«.
Die Mehrheit ihrer Landsleute sieht das eigene Land international isoliert. Der Westen trete Russland mit Angst, Besorgnis und Verachtung gegenüber, sorgen sie sich. Das ermittelten die Meinungsforscher des unabhängigen Lewada-Zentrums. Immer weniger Menschen wollten für festere Bindungen an den Westen eintreten. Sie seien auch immer weniger bereit, die westliche Kritik zu akzeptieren, die »in der Propaganda als Russophobie übersetzt wird«, wie Lewada-Direktor Lew Gudkow analysiert.
»Es ist das erste Mal, dass es uns besser geht«, sagt der 56-jährige Restaurantchef Pjotr Alexandrow mit Blick auf den wirtschaftlichen Aufschwung nach dem Niedergang in den »Wilden Neunzigern« mit der brutalen Privatisierung unter Präsident Boris Jelzin. Bis zum Jahr 2014 sei es dann unter Putin bergauf gegangen. »Aber sie gönnen uns das nicht.«
Die Kanzlerin wird für Fortschritte oder gar Erfolge zwischen Washington, Moskau, Kiew und Brüssel - also zwischen allen Fronten - heftig lavieren müssen. In der präsidialen Sommerresidenz Sotschi geht es um den Bruch des Atomvertrages mit Iran durch die USA, den Syrienkonflikt und die Ukrainekrise. Gemeinsame Interessen könnten vielleicht wieder zu einer gewissen Annäherung führen. 90 Minuten sind für die Beratung angesetzt, doch sie dürfte länger dauern.
Denn an der Einhaltung des Vertrages mit Iran oder Entspannung in den kriegerischen Konflikten ist Berlin wie Moskau gelegen. Die russische Duma verabschiedete am Donnerstag Gegensanktionen gegen die USA in zweiter Lesung. Deutsche Firmen können künftig übel in die Zwickmühle geraten. Ihnen drohen Strafen der USA, wenn sie sich nicht an die Sanktionen gegen Moskau halten. Von russischer Seite drohen ihnen Strafen, wenn sie die US-Sanktionen erfüllen. Derweil denkt auch Brüssel über die Abwehr von Trumps Sanktionen nach, Berlin über seine transatlantische Gefolgschaft.
Dazu passt der Kampf um die Gasleitung Nord Stream 2 von Russland nach Deutschland. Der Ukraine drohen mit ihren Inbetriebnahme große Einnahmeverluste als Transitland, die USA will Europa selbst Flüssiggas verkaufen und Länder der EU fürchten zu große Abhängigkeit von Moskau. »Die Bundesregierung macht sich zum Steigbügelhalter des autokratischen Präsidenten Putin«, schimpfte Grünen-Vorsitzende Annalena Baerbock bei T-Online gegen die Röhren. Doch da irrt sie gründlich.
Denn Putin sitzt sicher im Sattel. Gerade erst demonstrierte Russland zum »Tag des Sieges« am 9. Mai mit einer Parade unter viel Beifall an den dicht gesäumten Straßen zurückgewonnene militärische Stärke. Der Marsch des »Unsterblichen Regiments« vereinte allein in Moskau eine Million Menschen - und im ganzen Land über zehn Millionen - in der Erinnerung an den Sieg im Großen Vaterländischen Krieg gegen Hitlerdeutschland vor 73 Jahren und im Gedenken an ihre als Helden gefeierten Angehörigen.
Der Präsident lief mit einem Bild seines Vaters inmitten der Demonstranten. Er wurde mit Beifall gegrüßt - auch bei einer Liveschaltung auf einer Videowand am Rande der Twerskaja Straße, die vom Belorussischen Bahnhof zum Roten Platz führt. Die Amtseinführung Putins zwei Tage zuvor war nach den Erhebungen der Soziologen des russischen Zentrums WZIOM mit 53 Prozent wie keine zuvor vom Stolz seiner Landsleute auf Russland begleitet.
Kritik muss der Staatschef allerdings für die beabsichtigte Reform des Renteneintrittsalters und die Nominierung seines langjährigen Vertrauten Dmitri Medwedjew als Premier einstecken. Der sei »karmany«, hört man in Moskau, was sich auch mit handzahm übersetzen ließe. Eben mit seinem Premier bespricht der Präsident unmittelbar vor dem Treffen mit Merkel die Formierung der Regierung und ihre Programmatik.
Für Kanzlerin Merkel wird Putin kein leichter, wenn auch ein gewohnt berechenbarer Partner sein. Das machte er beim Thema Krim am Dienstag in genau 16 Minuten deutlich. Am Steuer eines KamAS-Lkw nahm er die Brücke zwischen dem Gebiet Krasnojarsk und Kertsch für den Autoverkehr in Betrieb. Von dieser sei sogar von Väterchen Zar geträumt worden, dankte er den Erbauern der 19 Kilometer langen Brücke: »Die Krim - das ist Russland.« Die russische Botschaft in Washington beschied dem US-Außenministerium, Moskau werde bei niemandem Erlaubnis für den Ausbau der Infrastruktur im Interesse der Einwohner von Regionen des Landes einholen. Das ist die vorherrschende Ansicht. Eine ältere Moskauerin berichtet, wie ihre Schwester auf der Krim sie beschworen habe: »Verschenkt uns um Gottes Willen nicht noch einmal!«
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.