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Das Gold einer demokratischen Gesellschaft

Weshalb wir Mecklenburg-Vorpommern als Modellregion des völkischen Rechtsextremismus wie auch als überidealisiertes Urlaubsland missverstehen

  • Daniel K. W. Trepsdorf
  • Lesedauer: 12 Min.

Thomas Müller* schaut von der Nordküste der Insel Poel bei Wismar in Richtung Dänemark. Sein betagtes Gesicht ähnelt einer alten Landkarte aus Pergament: Es scheint voll und ganz faltenzerfurchte Topografie zu sein. Ein eindrucksvoll zerklüftetes Hautrelief, dunkel und hell, wie von Flussbetten und Kanälen durchzogen, die sein Heimatland so unverwechselbar prägen. In Mecklenburg-Vorpommern ist das Wasser der Republik zu Hause. Über 2000 Seen und somit 25 Prozent der Fläche aller Binnengewässer Deutschlands finden sich inmitten Mecklenburgischem Elbetal und Stettiner Haff, zwischen den Kreidefelsen im Nationalpark Jasmund auf Rügen sowie der Nossentiner Heide im Süden.

Herr Müller kennt die meisten dieser urigen, verwunschenen Landschaften, die kaum von den Wogen menschlicher Urbanisierung in Mitleidenschaft gezogen worden sind. Der norddeutsche Mittsiebziger war als Ranger viel in den Naturschutzgebieten des Landes unterwegs: »Städte?« Müllers Lachen geht nahtlos in ein kehliges Pfeifenraucherräuspern über. »Die Menschen in Mecklenburg und Vorpommern leben nicht in Städten«, brummt er, »selbst unser größtes Ballungszentrum hier ist nur ein Dorf mit Hafen«.

Daniel Trepsdorf
Daniel Trepsdorf arbeitet bei der Regionalen Arbeitsstelle für Bildung, Integration und Demokratie und leitet seit 2012 das Demokratiezentrum Westmecklenburg in Ludwigslust. Die Fachkräfte dort beraten und unterstützen Prozesse in Organisationen zu den Themen Rechtsextremismusprävention, Demokratiestärkung und -pädagogik, Menschenrechtsbildung sowie zivile Konfliktbearbeitung.

Thomas Müller meint die Hansestadt Rostock. Der alte Herr mit der Schiffermütze und der tiefblauen bretonischen Kaban-Jacke hat den Kragen nach oben geschlagen. »Nee, min Jung«, spricht er räuspernd weiter, »die Menschen können die Widersprüche in Mecklenburg-Vorpommern kaum mehr ertragen. So ein herrliches Land: beispiellose Naturschönheit, charmante Kulturlandschaft verbunden mit unbegreiflicher wirtschaftlicher Perspektivlosigkeit. Wie soll man das den Leuten verständlich machen?« Er zögert, hält inne, lauscht kurz dem Küstenwind, als ob dieser Antwort wüsste, und fährt fort: »Hier im Nordosten ist das Armenhaus der Republik. Meine Kinder und Enkel sind allesamt Richtung Hamburg oder Berlin abgehauen. Ich hab’ manchmal das Gefühl, hier in Mecklenburg-Vorpommern hat seit 1989/90 die Flucht nie wirklich aufgehört«, stellt Thomas Müller fest. »Die Touristen flüchten vor der Nässe des Herbstes und der dunklen Stille im Winter, die Jugend in die Metropolen und die Alten flüchten unter die Erde.«

Er grinst. »Sogar manche Holzgewächse in ›Meckelbörg‹ vollziehen eine Fluchtbewegung.« Windflüchter, so nennt man die eindrucksvollen, von steter anlandender Prise Richtung Festland gebogenen Küstenbäume im Nationalpark Fischland, Darß, Zingst. Die krummen Baumriesen geben ein eindringliches Symbolbild für das Wesen der hier lebenden Menschen ab: zäh, von spröder Herzlichkeit beseelt, standhaft, wettergegerbt, salzig, wortkarg, störrisch und klug, mit weitem Horizont und großem Herzen, das im Takt der Ostseewellen pulsiert.

Die Menschen verlassen das Paradies im Nordosten

Ziehen wir die Prognosen des staatlichen Landesamtes für Statistik hinzu, dann wird Mecklenburg-Vorpommern bis 2030 noch einmal rund 200 000 seiner gegenwärtig 1,6 Millionen Einwohner*innen - bedingt durch demografischen Wandel und Abwanderung - verlieren. Immerhin kehren die Wölfe zurück ins Land an der Ostseeküste: Drei Rudel mit insgesamt elf Welpen sowie drei weitere Einzelgänger streunten zwischen Lübtheener Heide und dem größten innerdeutschen Binnensee, der Müritz, im Erhebungsjahr 2016/17 umher.

Und die Menschen? Zählt man Auszubildende und Studierende hinzu, dann pendeln wöchentlich knapp 80 000 Menschen aus Mecklenburg-Vorpommern heraus, um andernorts ihren Lebensunterhalt zu verdienen oder um zu lernen. Das sind Mitbürgerinnen und Mitbürger in den besten Jahren, die zur Entwicklung des sozialen Nahraumes, für die Stärkung von Alltagskultur und nachbarschaftlicher Daseinsfürsorge nur noch in eingeschränktem Maße zur Verfügung stehen. Mitmenschen, die kaum noch zur Stabilisierung einer krisengeschüttelten demokratischen Kultur in den weiten ländlichen Räumen, in Dörfern und Kleinstädten beizutragen vermögen.

Dies ist in der Tat ein außerordentliches Problem. Die AfD zog mit knapp 21 Prozent bei der letzten Landtagswahl an der CDU (19 Prozent) vorbei und wurde gewissermaßen aus dem Stand Oppositionsführerin.

Hinter Herrn Müller liegt das Nebelhaus der Insel Poel in der Nähe der Ortschaft Gollwitz. Die Rollläden der Fenster muten halb geschlossen ein wenig traurig, ängstlich, im günstigsten Falle verträumt an. Und dies mit Recht: Seit Jahren rückt die Ostsee näher. Beim nächsten Sturm, der die »Badewanne Ostsee« heimsucht, könnte das Haus mit der stark verwitterten Jazzbühne an seiner westlichen Flanke den Wellen zum Opfer fallen. Vielleicht nicht gleich morgen, vielleicht aber in den kommenden Jahren. Uferschwalben und Bienenfresser verlassen sukzessive ihre Höhlennester entlang der niedrigen Steilküste - zu gefährlich. Es sind nicht die einzigen Bewohner, die die »lütten« Ortschaften im deutschen Nordosten den Rücken kehren.

Auch Thomas Müller trug sich mit dem Gedanken, gemeinsam mit seiner Frau den Kindern und Enkeln hinterherzuziehen. Anlass gab hierbei ein aufziehender Sturm, der die deutsche Politik und Gesellschaft seit geraumer Zeit in Atem hält: Die Hass-, Ausgrenzungs- und Gewalttiraden rechtspopulistischer und völkisch-ultranationaler Überwältigungsversuche in der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit.

Was tun, wenn der neue Nachbar ein Rechtsextremist ist?

Thomas Müller stammt ursprünglich aus einem Dorf in der Nähe von Grevesmühlen im Landkreis Nordwestmecklenburg. Wir kennen uns von einem Beratungsprozess und haben einander schätzen gelernt. Als vor Jahren ein neuer Nachbar den halb verfallenen Hof am Ortsausgang kaufte, da freuten sich Thomas Müller und seine Frau zunächst sehr. »Endlich, so schien es, kommt wieder Leben ins Dorf: Kinderlachen, Kirschkernespucken, das helle, fröhliche Klirren der von Fußbällen eingeschossenen Fensterscheiben und gackernde Hühner, die durch Vorgärten gejagt werden«, schmunzelt Müller, bevor sich seine Züge verdunkeln. Indes, es wurde relativ rasch klar, dass der neuzugezogene Nachbar ein völkischer Rechtsextremist war. Es folgten: Schwarz-weiß-rote Fahne mit eisernem Kreuz in der Mitte, kameradschaftliche Treffen am Lagerfeuer, das Schmettern ultranationalen und einschlägig antisemitischen Liedgutes aus stark alkoholisierten Kehlen, rassistische Sprüche und runenverzierte Aushänge an der hölzernen Informationstafel des Dorfes: »Volkstod verhindern!«, »Den großen Austausch bekämpfen - der weiße, arische Widerstand ist aktiv!« oder »Tag X wird kommen, seid vorbereitet!« Aber ebenso: Besuche von Hipster-Nazis in schicken Sneakern, Identitäre und Neue Rechte, Sympathisanten von NPD und Schlipsträger der AfD, die aus SUVs und Pick-up-Trucks stiegen und stapelweise Plakate, Flyer und Faltblätter zur Wahl abluden. Herr Müller zerknüllt die Druckwerke, die auch in seinen Postkasten geschwemmt wurden.

Thomas Müller wollte diese Entwicklung nicht einfach hinnehmen. Er wandte sich gemeinsam mit dem zuständigen Pfarrer der nächstgrößeren Ortschaft und einer engagierten ansässigen Allgemeinmedizinerin an die regionalen Gemeinwesenberater*innen und Demokratiepädagog*innen. Hier fand er Unterstützung. Gemeinsam mit den Engagierten vor Ort wurden im Gemeindehaus Bürgertreffs organisiert. Man tauschte Erfahrungen aus, vernetzte sich mit weiteren Initiativen im näheren Umland. Einflussreiche Stakeholder, anerkannte lokale Meinungsführer*innen und Honoratioren wurden für die Herausforderung wider die rechtsextremistische Mobilmachung vor der eigenen Haustür aktiviert. Konkrete Schritte zum Dialog zwischen geflüchteten Neubürger*innen und Alteingesessenen wurden ausgelotet und die Ressourcen im Dorf für die Wiederbelebung einer zeitgemäßen Beteiligungskultur erörtert. Die Zauberworte, an denen sich die Dorfbewohner*innen orientierten, lauteten: Anschlussfähigkeit der Maßnahmen im Alltag, Praxisrelevanz und rasche Umsetzbarkeit anschaulicher Interventionen zur Demokratieentwicklung. Die Freude am Ausprobieren stand für viele Beteiligte im Mittelpunkt. Es folgten Filmabende und Vorträge zur Ursachenanalyse von globaler Armut, Gewalt und Flucht.

Gemeinsam wurde an der Dorfchronik zur Auseinandersetzung mit den Themen Krieg und Vertreibung während und nach der NS-Zeit gearbeitet. Gemeindefeste für Demokratie und Toleranz wurden organisiert, Mahnwachen für ein solidarisches Gesellschaftsklima initiiert, die Übernahme von Patenschaften für syrische Geflüchtete verwirklicht, Lampionumzüge für die Durchsetzung der Menschenrechte organisiert: weltweit, in Europa, der Bundesrepublik, in den Dörfern Mecklenburg-Vorpommerns. Analog hierzu fanden Sensibilisierungen, Beratungen und Fortbildungen zum Umgang mit Rechtsextremismus und gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit (GMF) statt.

Dies gefiel nicht jedem im Dorf. Rückschläge mussten verarbeitet, weitere Mitbürger*innen überzeugt werden. Thomas Müller bekam oft zu hören: »Das gibt sich schon wieder, die Jugend stößt sich nur die Hörner ab.« Oder: »Wir wollen Ruhe im Dorf, ihr macht ja mit euren Aktionen erst alle Welt auf die Neonazis aufmerksam.« Und auch: »Denkt an die Touristen, die wollen davon nix wissen, die Leute sollen sich hier erholen!«

Die weitere Arbeit an und mit einer demokratischen Bürger*innengesellschaft im Dorf wurde - angefangen bei der Moderation zivilgesellschaftlicher Prozesse über Menschenrechtsbildung bis zur Mediation von angepassten Maßnahmen konstruktiver Konfliktbearbeitung - von Demokratieförderern begleitet. Die Menschen machten positive Gemeinschaftserfahrungen, sie solidarisierten sich und sie erfuhren das, was Herr Müller das »Gold einer jeden demokratischen Gesellschaft« nennt. Er meint damit »Anerkennung des Einzelnen, authentische Wertschätzung, Zutrauen und Möglichkeiten zur Verantwortungsübernahme. Das Gefühl, als Person gewollt und gebraucht zu sein, und schließlich die Erfahrung von Selbstwirksamkeit«.

Diese Entwicklung wirkt im besten Sinne identitätsstiftend, selbstvergewissernd und mentalitätsfördernd bei allen engagierten Akteuren im sozialen Umfeld. Dabei ist es irrelevant, ob man an der Küste oder in den Alpen diese Erfahrungen macht. Mit einer progressiven, plural geprägten Gemeinschaft im Rücken haben es der ehemalige Ranger Thomas Müller und seine Mitstreitenden schließlich geschafft, dem Neonazi-Nachbarn die Freude an der gemeindeöffentlichen Agitation zu nehmen. Er tritt im Dorfleben nur noch selten in Erscheinung. Mit seinen Hassbotschaften, den Gewaltfantasien Andersdenkenden gegenüber und seiner Blut-und-Boden-Ideologie ist er vom Gemeindeplatz in den heimischen Kellerbunker, ins Private gezogen. Und zumindest diesen Status quo hält eine zukunftsorientierte demokratische Alltagskultur auch in Mecklenburg-Vorpommern durchaus aus.

Thomas Müller wird gemeinsam mit seiner Gattin in dem kleinen Dorf bei Grevesmühlen bleiben. Hier fühlt er sich zu Hause, hier kann er etwas bewegen. Auch wenn er ahnt, dass das Problem der Demokratiegefährdung niemals ganz verschwinden wird. Thomas Müller und seine Mitstreiter*innen überlegen sich neue, kreative Maßnahmen, um dagegen anzugehen.

Die Urlauber und Touristen lesen in den überregionalen Medien kaum von derlei Entwicklungen im deutschen Sommerreiseland Nummer eins - das noch vor Bayern liegt, worauf die Menschen hier oben stolz sind. In der Presse wird das Bundesland oft als Modellregion der extremen Rechten, als völkisches Experimentierfeld beschrieben. Dies stimmt zwar. Einerseits. Doch Mecklenburg und Vorpommern sind andererseits eben auch Regionen, in denen es viele sensibilisierte, zivilgesellschaftliche Engagierte gibt, die im Alltag für ein menschenfreundliches und tolerantes Zusammenleben ackern. Tag für Tag aufs Neue. So wie der unermüdliche Wellengang des Meeres, der gischtschäumend an die Ostseeküste schlägt.

Geschlossene Schulen und die Wahrnehmung der Demokratie

Wir können in Mecklenburg-Vorpommern seit geraumer Zeit interessante und gleichsam bedrohliche sozialpsychologische Entwicklungen beobachten. Dort, wo der demokratische Rechts- und Sozialstaat sich zurückzieht, wo Investitionen in Infrastruktur und Daseinsvorsorge von der öffentlichen Hand nicht mehr in ausreichendem Maße getätigt werden, wo Menschen lediglich als »Kostenfaktoren« und »Humankapital« gemäß ihrer Nützlichkeit klassifiziert werden, da wittern seit geraumer Zeit alte und neue Rechtsextremisten Morgenluft.

Vor diesem Hintergrund sollten politische Entscheidungen stets im Kontext eines »Democracy Mainstreamings« getroffen werden. Die dazugehörigen Kernfragen lauten: Welche Konsequenzen hat die strukturelle Vernachlässigung ländlich geprägter Regionen vor der Blende einer möglichen »Demokratieentleerung« vor Ort? Inwiefern wirken sich administrative Entscheidungen - die Schließung einer Klinik, die Verlagerung eines Verwaltungssitzes, die Entlassung der Streetworkerin, das Dichtmachen einer Schule - auf die Demokratiewahrnehmung der betroffenen Bevölkerung aus? Fest steht: Politische Entscheidungen, die soziale Desintegrationsprozesse für spezifische Gruppen in der Gesellschaft befördern, verstärken das Phänomen gruppenbezogener Ausgrenzung in der Bevölkerung. Rechtspopulisten und Extremisten instrumentalisieren dieses Frustrationserleben der Menschen - insbesondere innerhalb der gesellschaftlich fragilen Milieus der Landbevölkerung.

Menschfeindliche Mentalitäten verändern negativ das soziale Klima und die demokratisch-politische Kultur in den Sozialräumen von Kleinstädten und ländlichen Gemeinden. Die alteingesessene Bevölkerung begibt sich auf die Suche nach Sündenböcken. Und findet dabei Geflüchtete, »die Eliten« respektive »die da oben«, die Vertreter*innen sozial marginalisierter respektive wenig respektierter Gruppen oder alternativer Lebensformen. Verbreitete Vorurteile, Fremdenhass und menschenfeindliche Mentalitäten stiften die Legitimationen für rechtspopulistische Aktivitäten sowie - in ihrer aggressiven Ausbaustufe - für den organisierten und subkulturellen Rechtsextremismus. Obgleich wir festhalten wollen: Nicht jeder Rechtspopulist ist zwangsläufig ein Rassist. Aber jegliche Form von gewalttätigen Ausschreitungen gegenüber Minderheiten und ethnisch Fremden in der Vergangenheit wurzelten in der tiefen Abwertung der Vertreter*innen von Minderheiten. Die fatale Vorstellung von der Ungleichwertigkeit von Menschen nimmt dem herabgesetzten Individuum die Würde. Xenophobe Gewalt hat stets ihren Ursprung im Rassismus.

Die Mitte-Studie der Universität Leipzig verweist im Erhebungsjahr 2017 auf das hohe Verbreitungsniveau autoritärer Denkmuster und deren destruktive Dynamik innerhalb der deutschen Bevölkerung: 20,4 Prozent der Bundesbürger*innen sind latent ausländerfeindlich, 4,8 Prozent äußern sich antisemitisch, fünf Prozent der Befragten befürworten die Diktatur. 5,4 Prozent verfügen über ein geschlossenes rechtsextremes Weltbild (West: 4,8 Prozent, Ost: 7,6 Prozent). Ist der etablierte Wertepluralismus der Bundesrepublik in Gefahr? Schwächelt die normative Kraft der Gründungsmythen und Paradigmen der Berliner Republik: freiheitliche Grundordnung, liberaler Rechtsstaat, soziale Markwirtschaft und, vor allem, der Satz: »Nie wieder Auschwitz!«?

Debatten am Küchentisch und Sonntagsreden

Thomas Müller geht grübelnd am Strand entlang. Die Luft riecht salzig, nicht weit entfernt zeichnet sich die Silhouette der Vogelschutzinsel Langenwerda ab. Austernfischer, Sandregenpfeifer und Rotschenkel fliegen unglaublich nah an uns vorbei. Er ist sich sicher, dass es zur Zurückdrängung rechtsextremer Überzeugungen vor allem das tagtägliche Vorleben demokratischer Handlungskompetenz braucht. Gerade in Form von zugewandter Dialogprozesse am heimischen Küchentisch. Und nicht lediglich bei politischen Sonntagsreden und feiertäglichen Ritualen in der Medienöffentlichkeit. Eine herausfordernde Aufgabe, die alle Menschen in Deutschland angeht. Ein Beziehungsdreieck, bestehend aus wechselseitiger Anerkennungskultur, Verantwortungsübernahme und alltäglicher Selbstwirksamkeitserfahrung.

Geht es also um einen umfassenden Ansatz, um eine kritische Wertereflexion, die die Entstehungs- und Radikalisierungstendenzen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit in den Blick nimmt? Oder doch um mehr Kontrolle, Polizei und Verfassungsschutz, um Demokratiefeinde zurückzudrängen? Thomas Müller runzelt die Stirn: »Viel zu theoretisch! Nicht das Entweder-oder, sondern das Sowohl-als-auch ist entscheidend.« Es gehe eher darum, was wir in Deutschland unseren Mitmenschen vorleben. »Zeigen wir anderen gegenüber Solidarität, Fairness, Mitgefühl, unsere Akzeptanz für Unterschiede? Dann bietet der Zusammenhalt in Vielfalt ein tragfähiges gesellschaftliches Fundament«, meint der alte Mann. »Wächst die soziale Ungleichheit in der Bundesrepublik indes weiter, dann wird unser Land an gesellschaftlicher Kohäsionskraft verlieren. Wirtschaftliche Perspektiven und gesicherte Lebensverhältnisse für die Menschen sind gerade auch auf dem platten Land wichtig.«

Es braucht also einen Resonanzboden, der gleichsam soziale Sicherheit, geistige Orientierung, normative Redlichkeit, ökonomische Perspektiven und individuelle Entfaltungsmöglichkeiten bietet. Das ist schwierig. »Aber es ist die einzige erfolgversprechende Route durch die Untiefen und Missverständnisse demokratischer Entscheidungen«, sagt Thomas Müller leise.

* Name von der Redaktion geändert.

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