Hipster-Naturalismus oder Wandervogel reloaded

Warum sich Charlotte Roche mit ihrem platten Plädoyer für das Landleben und gegen die Stadt mächtig irrt

  • Roberto J. De Lapuente
  • Lesedauer: 4 Min.

Die Bestsellerautorin Charlotte Roche ist aufs Land gezogen. Grund genug für sie, in der »Süddeutschen Zeitung« zum allgemeinen Verlassen der Städte aufzurufen. Dort grassiert nämlich der Wahnsinn, diagnostiziert sie. Hundehaufen, Kotzehaufen und Menschenhaufen seien die Verursacher. Im Dorf sei das alles anders, friedlicher und freundlicher. Der regionale Bereich kenne keinen Krieg auf asphaltierten Straßen, keine Blechlawinen. Den Wald vergleicht sie mit »Sex mit jemandem, der das super kann und den man liebt und dem man vertraut«. Fazit: »Die Stadt ist einfach keine artgerechte Haltung für Menschen!« Vielleicht sollten wir Städter jetzt alle aufbrechen, raus aufs Land. Da liegt das Paradies so nahe und keiner hat’s gemerkt.

Ich bin vor drei Jahren von einer ländlichen Region in die Großstadt gezogen. Dieses Idyll, das Charlotte Roche da beschreibt, ich kannte das gar nicht. Ich lebte seinerzeit zwei Minuten vom Feld- und vier Minuten vom Waldrand entfernt. Aber dass sich mein menschliches Potenzial dort stärker entfaltet hätte, habe ich mit keiner Faser meines Körpers gespürt. Im Gegenteil, mir ging es ein bisschen so wie dem Schriftsteller Henry David Thoreau, als er naturalistisch beseelt auf den Mount Katahdin stieg und registrierte: Als Mensch in freier Wildbahn, so richtig romantisch ist das ja gar nicht, es fühlt sich nämlich karg und verloren an. Die wundersame Einheit zwischen Mensch und Natur: Für ihn war sie gegessen.

Roche vertritt jedoch einen hippen Naturalismus, der besagt, dass der Mensch nur dort aufblüht, wo das Städtische zurücktritt. In der Natur sei der Mensch ganz bei sich selbst angelangt. So weit ihre persönliche Erfahrung. Und die muss man ihr auch zugestehen, für sie ist das vielleicht der richtige Weg. Aber deshalb so tun, als sei das Ländliche der Platz, an dem es an Sorgen und Nöten mangelt, offenbart doch einen sonderbaren Hipsterblick auf die Dinge, denn er schaut nicht einmal darauf, dass auch in den ländlichen Regionen exakt dieselben Mechanismen am Werk sind, die Roche den Städten als deren krankmachende Folgen anheftet.

Das es zum Beispiel außerhalb der Städte keine Kriminalität gibt, stimmt absolut nicht. Es scheint, die Bestsellerautorin ist zu viel im Wald und Feuchtgebieten unterwegs, als dass sie weiß, wie das Landleben zuweilen tickt. Klar, Dealer trifft man hier selten. Kriminalität hat dort ganz oft die örtliche Verwaltung, die regionale Polizei und die dort ansässigen Unternehmer gepachtet. Man kennt sich nämlich, spielt sich gegenseitig Pfründe zu, der eine deckt den anderen. In deutschen Dörfern soll es noch immer vorkommen, dass ganze Dorfgemeinden sexuelle Übergriffe auf Frauen decken, wenn der Täter aus einer ansonsten angesehenen Familie stammt.

Wie gesagt, ich lebte in einer ländlichen Region. Ich sah Weinhänge beim Blick aus dem Fenster und wo andere eine Fußmatte vor die Haustür legen, hatte ich Felder und Flure. Als Zugezogener fand ich es tatsächlich unerträglich zu beobachten, wie dort die Geschicke des Ortes zwischen einigen wenigen Protagonisten aufgeteilt wurden. Die Zeitung hielt auch dann still, wenn die Kommunalpolitik mauschelte. Unternehmer stellten geringfügig Personal an, ließen sie aber Vollzeit arbeiten – der größte Teil des Lohnes floss unter der Hand. Eine Praxis, die im Ort bei mancher Klitsche bekannt war, die aber keiner beanstandete. Im Gegenteil, der Unternehmer galt als angesehen, schließlich schuf er Arbeitsplätze. Und in der örtlichen Union saß er mit anderen Unternehmergestalten, die es nicht so viel anders anstellten.

Die Stadt mag vielleicht Krankheiten fördern, aber wer auf dem Land krank wird: Viel Glück! Landärzte sind selten geworden, in manchen Landstrichen ist die Versorgungslage so miserabel, dass man chronisch kranken Menschen eigentlich das Gegenteil der Roche-Parole zurufen müsste: Verlasst die Dörfer! Und der Verkehr, der in Städten wirklich zusetzt und ein Problem darstellt? Man soll mal bitte nicht so tun, als ergehe es nur Städtern so. Auch in den ländlichen Regionen wälzen sich die Lindwürmer aus Blech und dem Geruch verschmorten Kupplungsgummis durch die Straßen. Es mögen weniger Autos sein, das stimmt schon. Aber da die Straßen eng und schlecht ausgebaut sind, wirken die Staus dort nicht so viel umgänglicher als in den Städten.

Artgerechte Haltung, liebe Charlotte Roche, hat rein gar nichts mit Dorf oder Stadt zu tun. Die systemischen Auswüchse spürt man je nach Lebensraum mal so mal so. Rückzug in die Waldeslust, ja hipper Eskapismus: Sorry, das ist keine Parole, die beeindruckt. Auf Wandervogel machen und die Stadt als Sündenpfuhl deklarieren: Wald-und-richtiges-Leben-Populismus können andere besser als Sie, Charlotte!

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