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Sommer der Hoffnung
Fünf Jahre nach der Gezi-Park-Bewegung regiert Erdogans AKP mit eiserner Faust. Was bleibt von der Revolte?
Nach drei Wochen gingen die Tränengasvorräte zur Neige. 130 000 Gaskartuschen hatte die türkische Polizei verschossen, die AKP-Regierung unter dem damals noch als Ministerpräsident fungierenden Recep Tayyip Erdoğan musste außerplanmäßig Nachschub organisieren. Es war der Sommer 2013 - und in der gesamten Türkei, in nahezu jeder Stadt des Landes, kam es zu Protesten gegen die Regierung.
Diese ließ mit äußerster Härte zurückschlagen. Während der bis in den Herbst andauernden Gezi-Park-Bewegung wurden mehr als 5000 Menschen verhaftet. Die Türkische Ärztevereinigung TTB registrierte über 8100 Verletzte. Mindestens fünf, wahrscheinlich aber elf Menschen verloren ihr Leben, darunter der erst 14-jährige Berkin Elvan, der beim Brotkauf im Juni 2013 von einer Tränengaskartusche getroffen worden war und im März 2014 nach mehrmonatigem Koma verstarb.
Begonnen hatte dieser Aufstand in einem unscheinbaren Park im İstanbuler Stadtteil Beyoğlu, ganz nah am Taksim-Platz, der seit jeher für die Linke in der Türkei starke symbolische Bedeutung besitzt. Auf dem Taksim-Platz starben 1969 bei Studierendenprotesten zwei Menschen, 1977 kam es hier während der Gewerkschaftsproteste am 1. Mai zu einem Massaker, dem 34 Menschen zum Opfer fielen. Jahr für Jahr gibt es Auseinandersetzungen darum, ob Gewerkschaften und Linke am Tag der Arbeit auf dem Taksim-Platz demonstrieren dürfen. Und auch für die Gezi-Park-Bewegung wurde Taksim zum leidenschaftlich umkämpften Ort.
Ihren Lauf genommen hatte sie indes auf der für die Bewegung namensgebenden Grünfläche, die nach dem Willen der Regierung einem Einkaufszentrum weichen sollte. Am
27. Mai 2013 kamen die Bagger und Bulldozer in den Gezi-Park. Eine kleine Gruppe von Umweltschützern protestierte dagegen, ihr Camp wurde geräumt. Daraufhin solidarisierte sich am 28. Mai der linke Parlamentsabgeordnete Sırrı Süreyya Önder von der kurdischen BDP - eine der Quellorganisationen der heutigen Linkspartei HDP - mit den Parkschützern und stoppte die Bauarbeiten. Der Aufruf »Occupy Gezi« verbreitete sich in Windeseile in dem überaus Twitter-affinen Land.
Am 30. Mai waren es bereits zehntausend vor allem junge Menschen, die im Gezi-Park und auf dem Taksim-Platz demonstrierten, einen Tag später hatte sich die Anzahl der Protestierenden auf hunderttausend verzehnfacht - es gab die ersten Schwerverletzten nach Tränengasbeschuss und Wasserwerfereinsätzen. Doch die Bewegung ließ sich nicht mehr aufhalten: Am 1. Juni gingen Hunderttausende in mehreren Dutzend Städten des Landes auf die Straßen und Plätze, wenige Tage später kam es zu Streiks der Gewerkschaft des Öffentlichen Dienstes (KESK) gegen die Polizeigewalt.
Zu diesem Zeitpunkt ging es längst nicht mehr nur um den Gezi-Park. Die Schleusen waren geöffnet für all den Unmut, der sich im Laufe der Zeit angesammelt hatte. Zwar verfügte die AKP über eine enorme Wählerbasis - ein nicht unbeträchtlicher Teil des Landes lehnte sie aber ab, hatte dies bis 2013 allerdings nie kollektiv artikulieren können. In den Jahren vor Gezi war es mehrfach zu punktuellen Protesten gekommen - wie nach dem Minenunglück 2014 in Soma oder durch die wachsende LGBT- und Frauenbewegung.
Gezi vereinte solche Ansätze in einer sozialen Bewegung, die die Regierung offen herausforderte. Sie brachte unzählige kreative Protestformen hervor, so den stillen Protest, bei dem Menschen einfach stumm auf der Straße standen, die Kochtopf- und Pfannendemos in den Stadteilen oder die »Hochzeit von Nuray und Özgür«.
Die Bewegung richtete sich gegen den autoritären Regierungsstil der AKP, aber auch gegen deren umwelt- und menschenfeindliche Wirtschaftspolitik. Diese war in den Nullerjahre mit freundlicher Unterstützung des Internationalen Währungsfonds und beklatscht vom »Westen« von der AKP durchgepeitscht worden - mit Privatisierungen, Wirtschaftsliberalisierung und Deregulierung in einem Ausmaß, wie es das in der Türkei zuvor nicht gegeben hatte. Die äußerste Brutalität, mit der die Regierung dem Protest vom ersten Tag an begegnete, steigerte diesen Unmut und trieb zunächst noch mehr Menschen auf die Straßen.
Erdoğan aber saß die Sache aus. Er beschimpfte die Demonstranten, witterte »ausländische Mächte« hinter dem Aufstand, wie er öffentlich erklärte. Auch wenn Gezi für die seit Anfang der Nullerjahre allein regierende AKP zweifelsohne die bis dahin größte Herausforderung darstellte: Die Gezi-Park-Bewegung konnte nicht gewinnen. In ihrer wunderbaren Vielfalt und Spontaneität fehlte es ihr an Schlagkraft, um der staatlichen Übermacht beizukommen.
Eine Niederlage war Gezi dennoch nicht: Mehr als drei Millionen Menschen nahmen im Sommer 2013 an etwa 5000 Protestaktionen teil. Sie teilen seither das Wissen, dass sich in kürzester Zeit eine Bewegung zusammenfinden kann, die selbst eine autoritäre Regierung wie die der AKP in echte Bedrängnis bringt. Für jene Generation, die nach der Militärdiktatur der 1980er Jahre geboren und aufgewachsen ist, war Gezi die erste derartige Erfahrung. In einem Land, dessen Herrscher stets auf ethnische Spaltungen setzten, vermittelte die Protestbewegung zudem eine Vorstellung davon, welche Kraft darin liegt, sich von Istanbul bis nach Diyarbakır zu verbinden.
Die im Oktober 2013 gegründete Linkspartei HDP und ihre Wahlerfolge aus den Jahren 2014 und 2015 waren eine direkte Folge der Gezi-Bewegung. Dass mit Selahattin Demirtaş ein offen als Kurde auftretender Linker 2014 für die Präsidentschaft kandidieren und fast zehn Prozent der Stimmen auf sich vereinen konnte, wäre zu anderen Zeiten ebenso undenkbar gewesen, wie dass sich in einer Dachpartei HDP die kurdische, linke BDP mit westtürkischen LGBT-Aktivisten, Umweltschützern und türkischen Altlinken zusammenschließt. Auch die Frauenbewegung, die am 8. März 2018 trotz des Ausnahmezustandes Tausende in İstanbul mobilisierte, kann an die kollektive Erfahrung von Gezi anknüpfen.
Heute regiert die AKP mit eiserner Faust: Der 2013 angeprangerte Autoritarismus hat sich in atemberaubendem Tempo radikalisiert. Erdoğan sitzt die Angst noch immer in den Knochen. Sein Wüten gegen jede Form der Opposition und besonders gegen die junge Generation - es ist auch der Tatsache geschuldet, dass der Diktator weiß, es hätte anders ausgehen, er hätte den Ben Alis folgen können.
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