- Die andere Türkei
- Neoliberalismus in der Türkei
Wird die Wirtschaft die Wahlen entscheiden?
Yücel Özdemir über die ungelöste Währungskrise und die Folgen jahrelanger neoliberaler Politik in der Türkei
Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat seinen Wahlkampf für die am 24. Juni stattfindenden Parlaments- und Präsidentschaftswahlen mit dem Aufruf an die türkischen Bürger, ihre Devisen in Türkische Lira umzutauschen, begonnen. Er weiß, dass sich die starke Abwertung der Lira in den vergangenen Wochen auf das Wahlergebnis auswirken wird. Aus diesem Grund versucht Erdoğan, dieses Feuer mit aller Macht zu kontrollieren. Als sein Appell an die Bürger keinen Widerhall fand, schickte er den Finanzminister und den Präsidenten der Zentralbank nach London, um von internationalen Spekulanten Kredite mit hohen Zinsen besorgen zu lassen.
Erdoğan und die AKP kamen im Jahr 2002 vor dem Hintergrund einer ganz ähnlichen Krise an die Macht. Nun drohen sie wegen einer Situation wie damals ihre Macht wieder zu verlieren. Erdoğans Herangehensweise, die Wirtschaft seit vielen Jahren mit Geld aus den Golfstaaten zu transformieren und die Wachstumsraten - besonders im Bausektor - hochzuhalten, funktioniert nicht mehr so wie früher.
Wer sollte in diesen Tagen, als die Lira auf 4,5 im Verhältnis zu einem US-Dollar bzw. 5,5 im Verhältnis zum Euro abgesackt ist, Erdoğan vertrauen und seine Devisen umtauschen? Nicht einmal er selbst kann ernsthaft daran interessiert sein. Dennoch ist es möglich, dass er in den kommenden Tagen auch die in Deutschland lebenden türkischen Arbeitnehmer aufruft, Devisen in die Türkei zu transferieren.
Presseberichten zufolge hat der Anteil derer, die ihre Ersparnisse in einer Fremdwährung halten, Rekordniveau erreicht. Heute ist das jeder Zweite, die Rate betrug vor fünf Jahren noch 33 Prozent. Mit anderen Worten: Die Menschen trauen der Wirtschaftspolitik der AKP-Regierung nicht. Auch wenn die Abwertung der Lira durch die Intervention der Zentralbank erst einmal unter relative Kontrolle gebracht wurde.
Erdoğan will in den Fragen des Ausnahmezustandes und des politischen Drucks auf die Zentralbank, die die Abwertung der Türkischen Lira verursachten, nicht nachgeben. Stattdessen wird behauptet, dass »Zinslobbyisten« und »ausländische Mächte« hinter der Inflation stünden. Umfragen zeigen jedoch, dass auch die AKP-Wähler dies eher nicht glauben.
Deutlich wird dieser Tage, dass die Türkei, die einst in der europäischen Presse wegen der hohen Wachstumsraten als das »China Europas« bezeichnet wurde, ein in vielerlei Hinsicht abhängiges Land ist - mit einer Außenverschuldung von 450 Milliarden US-Dollar. Aber letztlich werden Bürger, Arbeiter und Beschäftigte des öffentlichen Dienstes bei den Wahlen nach dem Einfluss der ökonomischen Lage auf ihr eigenes Leben entscheiden. Die neoliberale Politik der vergangenen Jahre hat die wirtschaftlichen und sozialen Probleme des Türkei massiv verstärkt. Laut einem kürzlich veröffentlichten Report des Bundes der Revolutionären Arbeitergewerkschaften (DİSK) sind sechs Millionen Menschen arbeitslos und mindestens zehn Millionen leben in Armut. 27 Prozent der Hochschulabsolventen finden keine Anstellung. Fünf Millionen Menschen arbeiten unter dem Mindestlohn von 1600 Lira (290 Euro). Während Erdoğans Herrschaft starben insgesamt 21 000 Arbeiter bei Arbeitsunfällen. Streiks von 200 000 Beschäftigten wurden aus Gründen der »nationalen Sicherheit« verboten.
Um es kurz zu machen: Die wirtschaftlichen Probleme sind für viele Menschen in der Türkei das wichtigste und drängendste Thema - dies zeigen Umfragen und Reaktionen von der Straße. Und es macht ganz den Eindruck, dass die Wahlkampagne Erdoğans, die auf Nationalismus, Polarisierung, ökonomischer Ausplünderung und Korrumpierung basiert, nicht so erfolgreich sein wird wie frühere Wahlkämpfe. Tatsächlich wachsen die Chancen dafür, dass das Regime eine Niederlage erleben wird, von Tag zu Tag.
Zur Kolumne von Yücel Özdemir in türkischer Fassung: Ekonomik sorunlar seçim sonuçlarını nasıl etkiler?
Aus dem Türkischen von Nelli Tügel
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