Im Frühling die Dunkelheit

Im dritten Teil seiner Jahreszeiten-Bände findet Karl Ove Knausgård zur Erzählung zurück

  • Guido Speckmann
  • Lesedauer: 4 Min.

Licht, Leichtigkeit und eine Lawine ungewohnter Gefühle: Das ist der Frühling, wie ihn der norwegische Autor Karl Ove Knausgård in seinem neuen Buch beschreibt. »Im Frühling« ist der dritte Teil seiner Jahreszeitenchronik - ein Projekt, das auf den sechsbändigen, in über 30 Sprachen übersetzten Bestseller »Min Kamp« (dt. »Sterben«, »Lieben«, »Spielen« etc.) folgte. Während er in den bereits auf Deutsch vorliegenden Büchern »Im Herbst« und »Im Sommer« kleine Essays über Alltagsgegenstände und abstrakte Phänomene zusammenstellte - eingerahmt von Briefen an seine ungeborene Tochter - findet er im Frühlings-Band zum Erzählerischen zurück.

Der Ich-Erzähler, ein Vater, dessen Alltag voller Probleme, Konflikte und Pflichten ist, schildert einen Tag im April mit seiner sechsköpfigen Familie. Und er tut dies wiederum in direkter Ansprache der inzwischen drei Monate alten jüngsten Tochter. Es ist ihr erster Frühling, und der Ich-Erzähler flicht immer wieder Beschreibungen der erwachenden Natur ein. »Noch hing etwas Sparsames über allem, die Landschaft war ohne diese tiefe Fülle, die der Sommer brachte, das Grün der Bäume war vorerst nur ein Schimmer, denn so ist der April: Knospen, Keime, Ungewissheit, Zögern.« Und tatsächlich deutet sich bald an, worin die Ungewissheit besteht. »Bald besuchen wir Mama alle zusammen«, versichert der Vater, der denselben Vornamen wie der Autor trägt, seinem Sohn.

Die Mutter befindet sich in einem Krankenhaus. Warum - das ist ausführlich erst später zu erfahren. Zunächst schildert der Ich-Erzähler, wie er an jenem Apriltag das Frühstück seiner Kinder zubereitet, sie zum Hort bzw. zum Schulbus bringt und dann die Kleinste ins Auto packt und mit ihr aufbricht, die Mutter zu besuchen. Das ist die karge Rahmenhandlung, die einen kleinen Höhepunkt findet, als der Vater feststellt, dass er die Milchflasche und seine Geldbörse vergessen hat und auch das Benzin bald aus ist. Wie er aus dieser Misere herauskommt - das Baby schreit und schreit -, ist wenig aufregend: Er sucht eine Bankfiliale auf und lässt sich Bargeld aushändigen.

Aber diese Rahmenhandlung ist lediglich Kulisse für Erinnerungen, Reflexionen und Rückblicke. Ein simpler roter Eimer kann da im Proust’schen Sinne einen Sog der Erinnerungen an die Eltern und die Kindheit auslösen. Sinniert wird darüber hinaus beispielsweise über Räume, das Verhältnis von Gegenständen und Identität. An dieser und anderen Stellen erinnert das Buch somit auch an die bereits erschienen Jahreszeiten-Bände.

Viel Raum nimmt dann die Schilderung ein, wie die Frau des Ich-Erzählers ins Krankenhaus gekommen ist. Der Grund ist die manisch-depressive Erkrankung seiner Frau. In einer der monatlich wiederkehrenden depressiven Phasen hat sie zu viele Schlaftabletten genommen. Der Vater kann sie nicht aufwecken und ruft einen Krankenwagen. Obwohl der Vorfall glimpflich ausgeht, muss die Frau zunächst im Krankenhaus bleiben. Und der Vorfall ist ein Einschnitt für den Vater, der ansonsten einen routinierten Umgang mit seiner depressiven Frau gefunden hat.

Die Angst um den Zusammenhalt der Familie macht sich breit in ihm. Anlass ist eine Vorladung der Kinderfürsorge. Ein Routinetermin, wenn »vorfiel, was hier vorgefallen war«. Von nun an schwebt das Damoklesschwert über der Familie. Der Staat könnte sich einmischen, sogar die Kontrolle übernehmen. Der Vater achtet von nun an peinlich darauf, in der Öffentlichkeit mit seiner kleinen Tochter ein gutes Bild abzugeben.

Im Epilog lesen wir, dass der Suizidversuch der Mutter vor drei Jahren und die Nachwehen längst vorbei sind und sie seitdem nicht mehr im Krankenhaus war. Das ist ein für den Frühling angemessenes Ende. So schön die anderen Jahreszeiten-Bände auch waren, »Im Frühling« stellt sie in den Schatten. Es erinnert eher an eine Minifortsetzung von Knausgårds autobiografischem Projekt - das wurde nicht zu Unrecht über den grünen Klee gelobt.

Karl Ove Knausgård: Im Frühling. Aus dem Norwegischen von Paul Berf. Mit Bildern von Anna Bjerger. Luchterhand, 249 S., geb., 22 €.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.