Wo Kartoffeln Grombiera heißen

Tübinger Dialektforscher haben einen sprechenden digitalen Sprachatlas gestaltet.

  • Ralf Schick
  • Lesedauer: 4 Min.

Dialektforschung erlebt wieder eine Renaissance. Das Thema Heimat bekommt nicht nur durch Deutschlands dafür zuständigen Bundesminister Horst Seehofer (CSU) eine neue Dimension. »Heimat hat auch viel mit Dialekten zu tun«, sagen die Tübinger Wissenschaftler Hubert Klausmann und Reinhard Johler. Mit ihrem Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft haben sie in den vergangenen drei Jahren in knapp 60 Ortschaften Baden-Württembergs unterschiedliche Dialekte aufgespürt. Diese Vielfalt illustriert nun ein »Sprechender Sprachatlas«, der Teil des Online-Projektes »Sprachalltag II: Sprachatlas - Digitalisierung - Nachhaltigkeit« ist.

Klar, dass die Bayern unter ihrem Ministerpräsidenten Markus Söder (CSU) schon längst einen sprechenden Sprachatlas haben. Auch Baden-Württemberg hatte dazu schon Ansätze, doch erst jetzt ist das Ländle dialektisch und digital im Netz abrufbar. Mit Daten aus dem Freiburger »Südwestdeutschen Sprachatlas« und dem momentan ebenfalls in Tübingen entstehenden »Sprachatlas von Nord Baden-Württemberg« wurden dialektgeografische Karten erstellt.

Schwäbisch, Alemannisch, Fränkisch und Kurpfälzisch sind die vier großen Dialekte im Südwesten Deutschlands. Auf 103 verschiedenen Karten zeigt der mit Tonaufnahmen versehene Altlas Unterschiede in der Aussprache, der Grammatik und bei bestimmten Begriffen. Er zeigt zudem den räumlichen Verlauf von Diphthongen und Lautverschiebungen, wo aus dem Wörtchen »breit« ein »broit« oder »breet« geworden ist. »I han, I hab, I hau, I ho k’het«, an manchen Orten erkennt man das Ursprungswort »haben« oder »ich habe gehabt« selbst als Baden-Württemberger nur noch ansatzweise.

Die Forscher der Universität Tübingen haben 110 Wörter und Redewendungen aufgespürt, die man nun im Internet per Mausklick aufrufen kann. Über eine Menü- und Navigationsleiste kann man sich durch die verschiedenen Dialekte scrollen. »Wir haben aber nicht jede Ortschaft markiert, sondern jeweils eine Region«, betont der Projektverantwortliche Hubert Klausmann, der selbst aus dem badischen Landesteil stammt.

Mit rund 630 000 Euro wurde das Online-Projekt gefördert, finanziert wurde der sprechende Atlas vom Wissenschaftsministerium, der Tübinger Universität und dem Förderverein Schwäbischer Dialekt. Die Wissenschaftler haben dabei insgesamt 13 Dialekte erkannt, »und es gibt sicherlich noch sehr viel mehr innerhalb kleinerer Räume und Ortschaften«, sagt Hubert Klausmann. Schließlich grenzt Baden-Württemberg an Rheinland-Pfalz, Hessen, Bayern, Frankreich und die Schweiz, wo sich zusätzliche Lautverschiebungen und Einflüsse entwickelt haben.

Für jede Region habe man vorab auf den Rathäusern nach Menschen gefragt, die den jeweiligen Dialekt auf Tonband sprechen. Der Altersdurchschnitt der Sprecher liegt laut Klausmann bei rund 70 Jahren. Vorab erstellten die Wissenschaftler einen Fragenkatalog, der von den Dialektsprechern innerhalb von einer knappen Stunde abgearbeitet werden musste. Beantwortet werden mussten Fragen etwa nach der Bekleidung, dem menschlichen Körper, zu Haus und Haushalt, Wetter und Gelände oder zum Thema Landwirtschaft.

Manchmal sind daraus auch ganze Erzählungen geworden, die - zum besseren Verständnis - dann ins Hochdeutsche transkribiert wurden. Es ist zuweilen ein lustiges Online-Sprachabenteuer, wenn man den Dialektübersetzungen folgt: Kartoffeln etwa heißen mancherorts Grombiera oder Äbiera, je nachdem, wo sich im Lauf der Jahrhunderte Ursprungsdialekte gehalten oder etwa durch den Einfluss der Franzosen zu napoleonischer Zeit verändert haben.

»Sprache und damit auch der Dialekt verändern sich in Raum und Zeit immer«, sagt Institutsleiter Reinhard Johler. Dazu habe in der jüngeren Vergangenheit unter anderem die zunehmende Mobilität der Menschen beigetragen. »Der Sprachatlas zeigt deshalb auch große Unterschiede zwischen Stadt und Land und sogar innerhalb der Großstädte selbst«, betont Hubert Klausmann. Das habe mit dem Zu- und Wegzug der Bevölkerung zu tun. In Ballungszentren sei der Dialekt teilweise sogar ganz verschwunden, dies sei aber eine bundesweite Tendenz.

Ruft man auf der Seite des »Sprechenden Sprachatlas« beispielsweise die Karte für das Wort »Pfütze« auf und klickt auf das kleine Play-Symbol bei Stuttgart-Münster, erklingt ein deutliches »Pfütz«. Im Süden der Stadt hingegen spricht man stattdessen von einer »Lach«.

Innerhalb der dreijährigen Projektphase habe man auch neue Erkenntnisse gewonnen gegenüber den Forschungsergebnissen von zuletzt vor knapp 40 Jahren, sagt Klausmann. Etwa, dass im Bodenseeraum immer mehr das Schwäbische vordringt und damit das Alemannische verdrängt. Statt »Huus« spricht man heute eher von »Hous«, wenn man von seinem Eigenheim redet, sagt Klausmann.

Der digitale und sprechende Sprachatlas zeigt nicht nur Lautverschiebungen, wo aus »Schnee« plötzlich »Schnui« oder »Schnoa« wird. Er illustriert auch komplette Wortveränderungen, die sich ausgehend vom Mittelhochdeutschen entwickelt haben. Während man im Nordosten Baden-Württembergs zu Sommersprossen nämlich »Muckenschiss« sagt, spricht man ganz im Süden am Bodensee von »Märzenkegel« oder »Laubflecken« über die aparten Pünktchen im Gesicht.

www.sprachalltag.de

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