Immerzu gegen den Tod
Zwischen Eskapismus, Obsession und Sehnsucht auf Erlösung: Eine kleine Philosophie des Schreibens.
Absturz und Ausweg« war es für Patricia Highsmith, Jane Bowles und Marguerite Duras. So konstatiert es zumindest Connie Palmen in ihrem just erschienen Buch »Die Sünde der Frau«, einer berührenden Annäherung an die drei durchweg zur Selbstzerstörung wie zur Exzentrik gleichermaßen neigenden Schriftstellerinnen des 20. Jahrhunderts. Die Rede ist vom Schreiben, das ihnen wie so vielen anderen seit jeher zu einer Art Droge wurde. Um ihren durchweg schwierigen Lebensrealitäten, oftmals verbunden mit einer überdominanten Mutter, einem fehlenden Vater und überhaupt einer verkorksten Jugend, zu entkommen, haben die genannten Autorinnen darin ihren Fluchtpunkt gefunden. Sie haben getrunken und im Delirium aus Wein, Wodka und Tabletten teilweise Weltbestseller geschrieben. Das weiße Blatt hat sie dabei förmlich aufgesogen, mitunter erbaut und stabilisiert, aber auch regelmäßig in den Abgrund gestürzt. Duras hat für manches ihrer heute zum festen Kanon der europäischen Literatur gehörenden Werke fünf bis sechs Liter Wein am Tag konsumiert. Highsmith ist nach jedem fertigen Manuskript in eine tiefe Depression verfallen. Die Hoffnung auf Erlösung sowie die Erkenntnis der Nichtigkeit kulminieren scheinbar im Akt des Schreibens.
Wer selbst diese Sucht kennt, die Leere mit Buchstaben, dann Wörtern, dann Sätzen zu füllen, weiß um die signifikanten Ausnahmezustände, die sich einstellen können, und fragt sich im Laufe der Jahre, welche Philosophie und Mechanismen eigentlich dahinterstecken. Was treibt uns zum Anfertigen von Texten? Welche Sehnsüchte meinen wir damit zu erfüllen und was passiert, wenn wir uns im Flow befinden? Richtig ist sicherlich: Es gibt kein Schreiben ohne Pathos. Jeder Silbe, ob sie dazu dient, Melancholie oder Freude auszudrücken, wohnt Bedeutung inne. Etwas auf das Papier (oder heute auf den Bildschirm) zu bringen, unterliegt grundsätzlich dem Versuch, Sinn herzustellen. Aus dem Nichts entsteht etwas, aus der Dunkelheit geht Licht hervor. Schreiben, könnte man sagen, hat durchaus eine sakrale Qualität.
Björn Hayer arbeitet als freier Kulturjournalist und ist Literaturwissenschaftler am Institut für Germanistik der Universität Koblenz-Landau.
Zum einen natürlich, weil wir etwas erzeugen und im Wort eine Tat sehen. Zum anderen aber auch, weil es uns in gleich mehrerlei Hinsicht ins Verhältnis setzt. Allen voran geht es um einen Weltbezug. Wir verorten uns in einer Umwelt, in Natur und Gesellschaft, nicht selten auch gegenüber Gott. Was darüber hinaus geschieht und von weitaus größerer Tragweite erscheint, ist eine Auseinandersetzung mit uns selbst. Schreiben ist Fremd- und Selbstbezug im selben Atemzug. Es hilft uns dabei, zu uns zu finden, indem wir in einen meditativen Zustand übergehen. Der Weg ins Innere kann aber auch über eine vormalige Distanzierung erfolgen. Um uns zu verstehen, müssen wir auf Abstand gehen. Nur so sensibilisieren wir uns für das Alteritäre. Das geschieht, wenn wir uns etwas förmlich von der Seele schreiben. Man könnte von einem therapeutischen Vorgang sprechen, wie ihn zahlreiche Schriftsteller der Geistesgeschichte - von Johann Wolfgang Goethe bis Franz Kafka - beschrieben haben. Füllen wir die Seiten, bewältigen wir unsere Träume und Erfahrungen. Wir bezwingen unsere Traumata und ringen um Heilung.
Schon das Schreiben über das Schreiben, Sie bemerken es, geneigter Leser, klingt, zugegeben, reichlich pathetisch und veranschaulicht wohl den bereits erwähnten immersiven Effekt, der einem durchaus auch Angst machen kann. Duras betonte mehrfach in ihrem Leben, dass es einen an den Rand des Suizids führen kann. Es erfordert zu einem nicht geringen Teil Selbstaufgabe, ruft eine Ausbeutung von Geist und Körper hervor. Wer zu sehr dem Drang nachgibt, droht sich also selbst zu verzehren. Und für welchen Preis? Im Schreiben hoffen wir auf Größeres als uns selbst zu stoßen. Vielleicht auf ein göttliches Gehör oder auf Engel. In der Sehnsucht nach Aufmerksamkeit können uns allerdings immer auch Dämonen begegnen.
Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass wir es mit einer Suchbewegung zu tun habe. Sie beginnt mit der häufig mühsamen Überlegung, wie wir einen Anfang finden und endet mit der Einleitung eines passenden Schlusses. Zu Ende ist ein Text dabei selten. Denken wir beispielsweise an Friederike Mayröcker, so lässt sich Schreiben als Prozess ad infinitum bezeichnen. Es ist eine Existenzweise, zwischen Be- und Entgrenzung des Ich in und von seiner Welt. Für die Wiener Autorin und Grand Dame der österreichischen Avantgarde-Lyrik bedeutet dies einerseits, selbst im hohen Alter fast jedes Jahr ein neues Buch zu schreiben, anderseits auch buchstäblich in der Literatur zu leben. Ihre Wohnung besteht aus Zettel- und Bücherbergen, zwischen denen und mit denen sie ihr Dasein führt. Sie liest und schreibt, entdeckt Neues und verfugt es mit Altbekanntem. Bei ihr gibt es weder einen Anfang noch ein Ende, nur ein ständiges Im-Prozess-Sein, ein permanentes Überschreiben all dessen, was sie wahrnimmt. So erzählt sie in ihrem neuen Band »Pathos und Schwalbe« von der »Beschriftung des Flieders« oder der »Synkopen-Dichtung im Klostergarten«. Einmal von der Feder erfasst, geht alles in eine »halluzinatorische Prosa«, wie Mayröcker selbst sagt.
Die Vielfalt, die sich im Schreiben äußert, entzieht sich beinah einer definitorischen Logik. Es kann ein Wahrnehmungsmodus sein, es kann eine schöne Einsamkeit sein, der es an nichts fehlt, es kann ein Verhängnis sein. Im besten Fall ist es mit Sicherheit ein Akt Liebe. Als Autor tastet man sich in einen Zustand, eine Person, die Zukunft, ferne Länder oder eine Erinnerung vor. Die Anteilnahme kann so groß sein, dass der Unterschied zwischen dem Ist und dem Soll, dem Hier und Dort bzw. Wirklichkeit und Traum ganz verschwindet.
Gleitet man dabei förmlich in eine andere Welt hinüber, stellt sich ein paradoxes Moment ein. Während man auf der einen Seite schwerelos der Realität entschwindet, bleibt man ihr doch verhaftet. Lediglich eine bewusst hergestellte Entfernung stellt sich ein, aus der ein anderer Blick auf sie möglich erscheint. Ähnliches hält Adorno für das ästhetische Schaffen an sich fest: »Der Prozeß, in jedem Kunstwerk geronnen zu einem Gegenständlichen, widersetzt sich seiner Fixierung zum Dies da und zerfließt wiederum dorthin, woher er kam.« Was man daraus vielleicht ableiten kann, ist die Gewissheit, dass einem das Schreiben nie eine feste Heimat zu geben vermag, dafür aber den schönsten Zwischenraum, in dem man sich wohl aufhalten kann; ein Raum voller Echos und Vibrationen, endlos und allumfassend.
Kehren wir daraus zurück, haben wir nichts eingebüßt. Denn Schreiben bedeutet prinzipiell auch Archivieren. Ein ganzes Leben lässt sich in Lettern einfangen. Manchmal sogar mehr. Denn zwischen den Zeilen können Gefühle einen Ausdruck erfahren, wie ihn das mündliche Erzählen nicht hergibt. Dass Schriftsteller oftmals bis zu ihrem letzten Tag an Schreibmaschinen sitzen oder den Stift nicht loslassen können, mag einem so einfachen wie auch letztlich doch unfassbaren Umstand geschuldet sein: Schreiben ist auch immer ein Ankämpfen gegen das Ausscheiden aus dem Leben, ein Wirken gegen das Vergessenwerden. Ob Prosa, Lyrik, Dramatik oder Tagebuchaufzeichnungen - schwarze Tinte überdauert die Zeiten und hinterlässt die Ahnung eines Kosmos. Von einem Ich bleiben Gedanken und Geist zurück. Die triste Absolutheit des Todes, sie wird aufgehoben.
Zweifelsohne wohnt dem Schreiben stets eine utopische Dimension inne. Es eröffnet uns Zugang zu einem Nicht-Ort oder, um es mit Ernst Bloch zu sagen, zu einem Noch-Nicht-Gewordenen. Es verleiht dem vagen Wirrwarr in unserem Kopf eine Form, liefert eine Struktur für das anfangs Begriffslose. Es gibt unserem Bewusstsein seine Konturen. Wie sich das anfühlt, können jedoch tausend Worte nicht sagen. Da ist das Schreiben eben doch wieder wie eine Droge, deren Wirkung keine Beschreibung zu erfassen imstande ist. Schreiben muss man praktizieren, um seiner Kraft gewahr zu werden. Also, verehrte Leser: Probieren Sie es aus!
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