- Die andere Türkei
- Wahlen in der Türkei
Der Schlüssel zu den Wahlen sind die Kurden
Yücel Özdemir über den Endspurt im türkischen Wahlkampf und Erdoğans Versuche, die HDP an einem erneuten Einzug ins Parlament zu hindern
Noch eine Woche bleibt bis zu den vorgezogenen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen am 24. Juni. Je näher dieser »Tag des Schicksals« rückt, desto mehr steigt die Spannung. Werden Erdoğan und seine AK-Partei, die seit 16 Jahren an der Macht sind, die Wahlen erneut gewinnen? Viele Umfragen sagen voraus, dass es Erdoğan nicht gelingen wird, in der ersten Runde die Präsidentschaftswahl für sich zu entscheiden und dass es der Allianz von AKP und rechter MHP auch nicht möglich sein wird, die absolute Mehrheit im Parlament zu erringen.
Die Hauptgründe dafür sind: steigende Arbeitslosigkeit, Armut, die rasante Abwertung der türkischen Lira, der Aufbau eines autoritären Regimes und das Fehlen eines Projektes, das die Bevölkerung begeistert. Zudem sind die Kandidaten, die gegen Erdoğan antreten, stark. Der linksnationalistische Kandidat der Republikanischen Volkspartei CHP, Muharrem İnce, beispielsweise hat mit seiner bisherigen Leistung viel Anerkennung erlangt. Es sieht so aus, als habe er mit seiner nicht auf Spaltung setzenden, sondern vereinigenden Art - gepaart mit feinem Humor - Erdoğans Pläne durchaus gestört.
Yücel Özdemir wurde 1968 in der türkischen Stadt Varto geboren. Er lebt mit seiner Familie in Köln.
Neben seinem Mathematikstudium an der Universität Istanbul war Özdemir verantwortlicher Redakteur der linken Wochenzeitschrift "Gerçek" (Realität), der Vorläuferin der Tageszeitung "Evrensel". Nach der Veröffentlichung eines geheimen Militärprotokolls, in dem es um die Bespitzelung von Kurden, Aleviten und Linken ging, machte ihm die türkische Justiz den Prozess wegen „Landesverrats“. Er flüchtete im August 1993 nach Deutschland. Seit Jahren schreibt Özdemir für "Evrensel" Berichte und Kolumnen aus Deutschland. Er gehört zu den 50 Journalisten, die beim NSU-Prozess einen ständigen Beobachterplatz erhalten haben und teilt seinen Platz mit "neues deutschland".
Denn aufgrund des erfolgreichen Wahlkampfes von İnce dürften die Präsidentschaftswahlen in die Stichwahl gehen. Und wenn sich Erdoğan und İnce am 8. Juli in einer zweiten Runde zur Wahl stellen, werden die Stimmen der kurdischen Wähler und der progressiven linken Kräfte das Zünglein an der Waage sein.
Bei der Abstimmung über die Aufhebung der Immunität von HDP-Abgeordneten 2016 lehnte İnce die Zusammenarbeit mit der AKP ab. Auch besuchte er Selahattin Demirtaş im Gefängnis, nachdem dieser als Präsidentschaftskandidat von der Demokratischen Partei der Völker HDP nominiert worden war. Dies brachte ihm Sympathien bei kurdischen Wählern ein. Aus diesem Grund konnten sich kürzlich auch Tausende bei einer Wahlkampfveranstaltung von İnce in Diyarbakır zusammenfinden, wo die CHP seit Jahren keine großen Versammlungen hatte durchführen können. Die Tatsache, dass İnce in Diyarbakır - in der Hauptstadt der Kurden der Türkei - mehr Menschen mobilisieren konnte, stört Erdoğan. Sowohl er als auch İnce wissen, dass der Schlüssel zur Präsidentschaft in den Händen von Demirtaş und den Kurden liegt.
Und diese wiederum scheinen die Entscheidung getroffen zu haben, in der Stichwahl auf das Ende des Erdoğan-Regimes zu setzen. Erdoğan kann nicht mehr einfach wie früher Stimmen unter kurdischen Wählern mobilisieren. Also droht er und verbreitet Angst. Kurz vor dem Wahltermin wurde mit einer Militäroperation gegen die PKK in den Kandil-Bergen begonnen, Erdoğan tönte, sie dort in einer Woche besiegen zu können - was ihm ihn 16 Jahren nicht gelang. Er versucht, die nationalistischen Wähler zu mobilisieren, indem er öffentlich versprach, im Fall eines Wahlsieges Demirtaş hinrichten lassen zu wollen. Erdoğan arbeitet so mit aller Kraft daran, zu verhindern, dass die HDP die Zehn-Prozent-Hürde nimmt und damit wieder den Sprung ins Parlament schafft. Auch deswegen wird die Stimmabgabe in den kurdischen Dörfern unter dem Vorwand des Ausnahmezustandes fast unmöglich gemacht. Andererseits wissen Kurden, Progressive und Demokraten, dass der einzige Weg, Erdoğan eine Niederlage zu bescheren, darin besteht, die HDP wieder ins Parlament einziehen zu lassen. Darum werden viele Menschen für die HDP stimmen.
Eine Woche vor den Wahlen ist die Hoffnung gewachsen, dass Erdoğan diesmal verlieren könnte. Der Wahlkampf war nicht so einfach, wie der Präsident sich das gedacht hatte. Während er bestrebt war, seine Macht mit vorgezogenen, überfallartigen Wahlen zu festigen, steht er nun vor einem Verlust an Wählerstimmen. Wird sich die Stimmung auf den Straßen und in den Umfragen an den Wahlurnen bemerkbar machen? Wir werden abwarten und sehen.
Aus dem Türkischen von Nelli Tügel
Zur Kolumne von Yücel Özdemir in türkischer Fassung: Seçimlerin anahtarı Kürtler'de
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