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Rational und konservativ
Fast eineinhalb Millionen Türkeistämmige in Deutschland waren aufgerufen, ihre Stimme abzugeben
In der Türkei stehen Wahlen an und viele fragen sich, wie sich die Menschen mit türkischem Hintergrund in der Bundesrepublik verhalten werden. Nach dem türkischen Verfassungsreferendum am 16. April 2017 war hierzulande eine Debatte über das »Wahlverhalten der Deutschtürken« entbrannt. Nach den anstehenden Staatspräsidentschafts- und Parlamentswahlen am 24. Juni ist eine ähnliche Diskussion zu erwarten - zumal die politischen Präferenzen der Deutsch-Türken sich kaum geändert haben dürften.
Damals, vor einem Jahr, echauffierten sich bürgerliche Medien, dass rund 63 Prozent der »Deutschtürken« Erdoğans Verfassungsänderung zugestimmt hätten. Während Politiker der SPD, der Grünen und der LINKEN ihre Enttäuschung darüber kundtaten, gaben konservative und liberale Politiker Steilvorlagen für rechtspopulistische und rassistische Ressentiments. Sie bauten ein Bild auf, das den Migranten mit türkischem Hintergrund Demokratie- und somit Integrationsfähigkeit absprach. Einige meinten gar, dass die »deutschtürkischen Ja-Wähler« in »ihr« Land zurückkehren und Doppelstaatsangehörigkeiten abgeschafft werden sollten. In dieser Debatte wurden kulturalistische Argumente in Anschlag gebracht, obwohl gerade die Erdoğan-Unterstützer und deren Organisationen in der Bundesrepublik privilegierte »Dialogpartner« deutscher Behörden sind. Mehr noch: Viele dieser Organisationen wurden von den Bundesregierungen unterstützend mit aufgebaut.
Dass ein beträchtlicher Teil der türkischen Staatsbürger*innen, die in Deutschland leben, konservativ und nationalistisch eingestellt ist, ist nicht überraschend und hat vielfältige Gründe. Diskriminierungserfahrungen im alltäglichen Leben und auf institutioneller Ebene gehören ebenso dazu wie die Art der soziokulturellen Milieus, der religiöse Zugehörigkeiten und der Familienbiografien. Aber der eigentliche Grund für die Verstärkung von nationalistischen Einstellungen der Türkeistämmigen in Deutschland ist in der jahrzehntelangen nationalistisch-konservativ-islamistischen »Beschallung« seitens staats- und regierungsnaher türkischer Organisationen zu sehen. Schon kurz nach dem Militärputsch vom 12. September 1980 wurde von der türkischen Generalität die »Befriedungsoperation für Auslandstürken« beschlossen, deren zentrales Operationsfeld - mit Billigung der damaligen Regierung - die Bundesrepublik war. Der Putschisten-Anführer General Evren gab das Ziel vor: Der Einfluss von »staatsfeindlichen Elementen« in Europa sollte gebrochen und Auslandstürken sollten mit gezielter Förderung des türkischen Nationalismus für eine starke Protürkei-Lobby gewonnen werden.
In diesem Rahmen wurde zuerst 1982 in Berlin die DITIB, deren Vereinssitz 1984 nach Köln wanderte, gegründet. Organisatorisch ist die DITIB, obwohl ein nach deutschem Recht gegründeter (Ausländer-)Verein, dem Vorsitzenden der Anstalt für Religionsangelegenheiten in Ankara unterstellt. Dieser wiederum war früher an die Anweisungen des Nationalen Sicherheitsrates gebunden und ist heute dem Staatspräsidenten unterstellt. Alle Imame von DITIB-Moscheen sind türkische Beamte und werden von den jeweiligen Generalkonsulaten kontrolliert. So hat der türkische Staat einen direkten Draht zu den Türkeistämmigen in der Bundesrepublik auf- und ausgebaut. Doch nicht nur die DITIB diente und dient diesem Zweck, auch zahlreiche Sportclubs, Elternvereine, Unternehmer- und Akademikerverbände sowie so genannte Kulturvereine wurden unter dem Dach der »Koordinierungsräte türkischer Vereine«, deren Adressen stets die der Generalkonsulate sind, zusammengeschlossen. Die AKP konnte also, als sie 2002 an die Macht kam, eine vorhandene Organisationsstruktur nutzen und ausbauen.
Dennoch konnte bisher die AKP die überwiegende Mehrheit der Türkeistämmigen in Deutschland für ihre Ziele nicht gewinnen. Von den rund drei Millionen Türkeistämmigen sind laut Statistischem Bundesamt 1 483 515 Personen weiterhin türkische Staatsangehörige. Bei den Parlamentswahlen am 1. November 2015 lag die Wahlbeteiligung bei 40,7 Prozent. Von den 575 564 abgegebenen Stimmen entfielen 59,7 Prozent auf die AKP, Zweitplatzierte war die HDP mit 15,9 Prozent, die CHP erhielt 14,8 und die MHP 7,5 Prozent. Beim Verfassungsreferendum im April 2017 gaben 46,2 Prozent der wahlberechtigten Türkeistämmigen ihre Stimme ab, 63,1 Prozent stimmten für die Einführung eines Präsidialsystems, 36,9 Prozent dagegen.
Diese Wahlergebnisse der vergangenen Jahre belegen, dass letztlich nur ein geringer Teil der Türkeistämmigen der AKP nahesteht - entgegen der eingangs angeführten Feststellungen bürgerlicher Medien und Politiker in Deutschland. Allein das Ergebnis des Verfassungsreferendums zeigt, dass nur 28 Prozent der Wahlberechtigten in der Bundesrepublik Erdoğan folgen. Allerdings fand das Referendum knapp ein Jahr nach dem gescheiterten Putschversuch vom Juli 2016 und damit in einer polarisierten und angespannten politischen Atmosphäre statt. Auch die Parlamentswahlen im November 2015 waren von einer hoch emotionalisierten und nationalistisch aufgeheizten Stimmung beeinflusst. Mit ihrer Polarisierung konnte die AKP auch in Deutschland ihre Wählerbasis konsolidieren.
Für die vorgezogenen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen am 24. Juni 2018 hatten Türkeistämmige im Ausland die Möglichkeit, bis zum 19. Juni in den Konsulaten ihre Stimme abzugeben. Es ist davon auszugehen, dass die AKP wieder um die 350 000 Stimmen aus der Bundesrepublik erhalten wird. Die AKP-Wähler, konservativ und nationalistisch wie sie sind, werden rational und interessengeleitet entscheiden. Ob jedoch deren Stimmen für einen erneuten Wahlsieg ausreichen, ist alles andere als sicher. Denn Erdoğans »Unbesiegbarkeitslack« hat Risse bekommen und in der Türkei ist eine Wechselstimmung spürbar. Möglich, dass diese einen Teil der bisherigen Wahlabstinenzler dazu gebracht hat, doch zu wählen und damit die Wahlbeteiligung zu erhöhen, was der Opposition zugute kommen könnte. Laut den am Mittwoch veröffentlichen Zahlen der türkischen Wahlkommission beteiligten sich mit 49,74 Prozent der in Deutschland lebenden Wahlberechtigten tatsächlich mehr Menschen als 2015 und 2017.
Murat Çakır ist Büroleiter der Rosa- Luxemburg-Stiftung in Hessen. Dieser Text erschien in einer Langfassung auf www.rosalux.de
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