Kampf um die Urnen

Türkei: Mehr als 600 000 Wahlbeobachter im Einsatz

  • Ismail Küpeli und Nelli Tügel
  • Lesedauer: 4 Min.

Nach einem unfairen, fast zweimonatigen Wahlkampf waren am Sonntag 56 Millionen türkische Staatsbürger aufgerufen, sowohl das Parlament als auch den Präsidenten neu zu wählen. Mit den Wahlen soll das im April 2017 bei einem Referendum beschlossene Präsidialsystem eingeführt werden, das den Präsidenten mit weitreichenden Vollmachten ausstattet, das Parlament entmachtet und die Gewaltenteilung faktisch aufhebt. Erstmals fanden die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen gleichzeitig statt. Die Wahllokale schlossen zwar bereits um 16 Uhr MEZ, doch hatte die Hohe Wahlkommission der Türkei erste Hochrechnungen erst für den Abend angekündigt. Bis Redaktionsschluss lagen keine Ergebnisse vor.

Der Wahltag war vom Kampf um die Urnen und von Berichten über Unregelmäßigkeiten geprägt. Die Opposition hatte im Vorfeld massive Wahlfälschungen befürchtet und daher ihre Anhänger aufgerufen, möglichst kein Wahllokal unbeobachtet zu lassen. Auch nach der Stimmabgabe sollten die Menschen sich an den Wahllokalen aufhalten, um auffällige Ereignisse zu melden und gegebenenfalls zu unterbinden.

Mehr als 600 000 Wahlbeobachter waren am Sonntag im Einsatz, unter ihnen auch ausländische Unterstützer. Einigen von ihnen war die Einreise verweigert worden, wie beispielsweise Andrej Hunko, Bundestagsabgeordneter der Linkspartei. Andere Linke-Politiker sowie Aktivisten der Interventionistischen Linken waren indes vor Ort. Die Arbeit der unabhängigen Wahlbeobachter wurde allerdings enorm erschwert. Die türkische staatliche Nachrichtenagentur AA meldete, dass zehn ausländische Wahlbeobachter festgenommen wurden, darunter drei deutsche Staatsbürger.

Bereits am Vormittag gab es mehrere Berichte darüber, dass Wahlhelfer der Opposition an ihrer Arbeit gehindert und zum Teil durch AKP-Mitglieder ersetzt wurden, so zum Beispiel in Diyarbakır und Urfa. Aus anderen Wahllokalen wurden fragwürdige Stimmabgaben gemeldet, etwa durch Personen, die nicht in den Wählerlisten registriert waren. Männer sollen mancherorts für ihre Frauen mitgewählt haben.

Zu Vorfällen kam es auch in Suruç in der Provinz Şanlıurfa im Südosten des Landes. Bülent Tezcan, Sprecher der größten Oppositionspartei CHP, sagte, dort sei versucht worden, Wahlbeobachter mit »Schlägen, Drohungen und Angriffen« von den Urnen fernzuhalten. Der Leiter der Hohen Wahlkommission, Sadi Güven, kündigte an, die Vorfälle juristisch verfolgen zu wollen. Präsident Erdoğan befand hingegen bei seiner Stimmabgabe in İstanbul gegen Mittag, dass »bislang keine Ungereimtheiten zu verzeichnen« seien.

Schon bei vergangenen Wahlen hatte es zahlreiche Hinweise auf Manipulationen gegeben. Bevor Erdoğan im April 2018 die vorgezogenen Neuwahlen verkündete - ursprünglich war der Wahltermin für Herbst 2019 vorgesehen - war zudem noch eine Reform des türkischen Wahlgesetzes durchs Parlament gepeitscht worden, die Wahlfälschungen weitgehend legalisierte. Gerade in den mehrheitlich kurdischen Gebieten im Südosten des Landes waren Wahllokale aus HDP-Hochburgen in Wahlkreise verlegt worden, in denen die AKP stark ist.

Der Kampf um die Urnen fand vor dem Hintergrund einer in den Wochen des Wahlkampfes schwächelnden AKP-Regierung und spürbarer Wechselstimmung statt. In den vergangenen Tagen war die Opposition in der Lage, Millionen Anhänger zu Wahlkampfauftritten zu mobilisieren. Am Donnerstagabend kamen mehrere Millionen Menschen zu einem Auftritt des CHP-Kandidaten Muharrem İnce nach Izmir, am Samstag waren bei den Abschlusskundgebungen von CHP und linker HDP Hunderttausende in İstanbul und Van.

Die letzten Umfragen sahen eine Stichwahl für die Präsidentschaft voraus. Diese würde am 8. Juli stattfinden. Neben Erdoğan stellte sich für die größte Oppositionspartei, die kemalistische CHP, Muharrem İnce zur Wahl. Für die rechte IYI-Partei kandidierte die ehemalige Innenministerin des Landes, Meral Akşener. Die linke HDP hatte ihren inhaftierten ehemaligen Ko-Vorsitzenden, Selahattin Demirtaş, ins Rennen geschickt.

Bei den Parlamentswahlen wiederum stellten sich mehrere Allianzen zur Wahl, was nach der Reform des Wahlgesetzes erstmals möglich war. Die AKP trat gemeinsam mit der rechtsnationalistischen MHP als »Volksallianz«-Liste, an, in die auch Kandidaten kleinerer rechter und nationalistischer Parteien aufgenommen worden waren. Die Oppositionsliste unter den Namen »Nationale Allianz« bestand aus CHP, IYI-Partei und der islamistischen Saadet-Partei. Die HDP kandidierte allein für das Parlament. Für sie ging es vor allem darum, trotz der Behinderungen vor und während der Wahl über die Zehn-Prozent-Hürde zu kommen und damit erneut im Parlament vertreten zu sein.

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