- Die andere Türkei
- Wahlen in der Türkei
Deswegen wählen Deutschtürken die AKP
Yücel Özdemir über Gründe, weshalb Türkeistämmige in der Bundesrepublik für einen Despoten stimmen
Seit Beginn der vergangenen Woche ist mit Recht eine öffentliche Debatte darüber entbrannt, warum zwei Drittel der wahlberechtigten Türkeistämmigen in Deutschland für Erdoğan gestimmt haben. Die Wahlnacht bot zudem Anlass für eine Diskussion über Erdoğan-Unterstützer, die in einigen deutschen Städten Siegesfeiern organisierten.
Die Debatte ist nicht neu. Beim Referendum über die Einführung eines Präsidialsystems im April 2017 stimmten von 660 000 Menschen, die sich an der Wahl beteiligten, 412 000 (63 Prozent) für Erdoğans autoritäres Regime. Wenn wir die Ergebnisse der Wahlen vom vergangenen Sonntag - also 14 Monaten nach dem Referendum - betrachten, sehen wir uns mit einem noch etwas negativeren Bild konfrontiert.
Aber zunächst muss ein häufiges Missverständnis ausgeräumt werden. Glaubt man der Berichterstattung in deutschen und türkischen Medien, dann könnte nämlich der Eindruck entstehen, dass 65 Prozent aller Türkeistämmigen in Deutschland für Erdoğan gestimmt hätten. Das ist nicht korrekt: Nur etwa die Hälfte der Türkeistämmigen in Deutschland hat die türkische Staatsbürgerschaft und ist damit wahlberechtigt. Von diesen wiederum beteiligten sich knapp 50 Prozent an den Wahlen. Es sind also »nur« 65 Prozent von 660 000 türkeistämmigen Wählern, die für Erdoğan gestimmt haben, und keineswegs 65 Prozent der knapp drei Millionen Deutschtürken.
Es gibt aber dennoch eine Zunahme an AKP-Unterstützern im Vergleich zu den vorangegangenen Wahlen. Diesmal erhielt Erdoğan 65 Prozent in Deutschland und die AKP bei den parallel zu den Präsidentschaftswahlen abgehaltenen Parlamentswahlen 55 Prozent. Bei früheren Wahlen hatte die AKP in Deutschland schon etwa zehn Prozentpunkte mehr Unterstützung als in der Türkei. Diesmal beträgt der Unterschied zwölf bis dreizehn Prozentpunkte.
Hier zeigt sich, dass die Spannungen in den deutsch-türkischen Beziehungen der vergangenen zwei Jahre für Erdoğan günstig waren. Diese Spannungen haben die innere Geschlossenheit der potenziellen AKP-Wählerschaft gestärkt. Erdoğans Politik, die auf die Vertiefung der Unterscheidung zwischen »Wir« gegen »Sie« (Deutsche, der Westen, die Christen ...) abzielt, ist aufgegangen. Hinzu kommt zunehmender Rassismus, die Ungleichheit und erlebte Diskriminierung in der Bundesrepublik , die dazu führt, dass viele Deutschtürken die Türkei als »Zufluchtsland« betrachten und in Erdoğan den einzigen Anführer sehen, der sich um sie kümmert.
In der türkeistämmigen Wählerschaft ist außerdem der muslimisch-sunnitische Glaube vorherrschend, die AKP macht sich das zunutze. Sie hat die (türkischen) Herkunftsstädte der Deutschtürken analysiert und in Deutschland danach gearbeitet. Die Mehrheit der Wahlberechtigten in Deutschland kommt ursprünglich aus Städten in der Türkei, in denen Erdoğan stark ist. Ein Beispiel ist die alte Bergbaustadt Essen im Ruhrgebiet, in der Erdoğan in Deutschland die höchsten Ergebnisse erzielt hat. Im Gebiet Essen, wo 115 000 türkeistämmige Wahlberechtigte leben, kommen die meisten aus der türkischen Bergbaustadt Zonguldak, einer AKP-Hochburg.
Dieselben Türkeistämmigen, die AKP und Erdoğan wählen, entscheiden in Deutschland eher nach ihrer Klassenlage und geben ihre Stimme SPD oder Linkspartei. Solange sie aber bei türkischen Urnengängen ihre Wahlentscheidung nicht ebenfalls nach ihrer Klassenlage treffen, wird die Situation in Deutschland bleiben, wie sie ist. Hier etwas zu ändern, stellt deutsche wie türkeistämmige Progressive vor Herausforderungen. Es darf dabei nie vergessen werden: Die Befreiung der Türkeistämmigen vom Einfluss Erdoğans und seiner Handlanger bedeutet sowohl eine wichtige Unterstützung der demokratischen Kräfte in der Türkei als auch eine Erleichterung des Zusammenlebens in Deutschland.
Aus dem Türkischen von Nelli Tügel
Zur Kolumne von Yücel Özdemir in türkischer Fassung:
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1092855.tuerkiye-koekenliler-bundan-erdoğanrı-seciyorlar.htmlMehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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