Im Namen der Menschlichkeit

Im Kino: »Polumgla« (Halbdunkel) von Artjom Antonov

  • Marion Pietrzok
  • Lesedauer: ca. 3.5 Min.
Die Kamera fliegt über eine halbdunkle Winterlandschaft, eingeschneite Dorfhäuser. Dann hat sie das Geschehen auf einer Filmleinwand im Objektiv: Es wird wie rasend Swing getanzt. Dann ein Schwenk zu den begeisterten Zuschauern: bandagierte, amputierte, blinde Sowjetsoldaten im Lazarett amüsieren sich. Es ist Kriegswinter 1944/45. Nachdem eine neue Spule in den Projektor des Frontfilmvorführers eingelegt ist, herrscht Totenstille. Die Wochenschau zeigt Dokumentaraufnahmen von den Kriegshandlungen: sich ergebende deutsche Soldaten in Schützengräben, auf Straßen der breite, endlose Strom deutscher Kriegsgefangener. Der schwerverwundete Leutnant Grigorij kann das nicht mitansehen, stürmt aus dem Vorführraum, kippt Wundsprit, den er der Krankenschwester abluchst, stiehlt Entlassungsformulare und büchst aus. Sucht die nächste Kommandantur auf, um sofort an die Front geschickt zu werden, die Fritzen zu schlagen. Aber es kommt anders. Der junge Artillerie-Leutnant entgeht knapp dem Kriegsgericht und wird zum Kommandeur eines Bautrupps. In Polumgla - »was für Namen es doch gibt«, sagt der ihm zugeteilte Sergeant sinnierend -, im fernsten russischen Norden, soll unter der Alliierten-Fluglinie ein hölzerner Funkturm errichtet werden. Die Bauleute aber sind: deutsche Faschisten. Ausgerechnet welche von denjenigen, die der traumatisierte Grigorij voller wundloderndem Hass auf der Stelle ebenso erbarmungslos töten will, wie sie seine Kameraden abgeknallt haben. Aber die Männer sind ohnehin dem Tod geweiht. Erst der transportmittellose Eisesmarsch durch die Taiga, dann nur eine Hungerration an Proviant. Wenn der Radioturm steht, dürften sie ums Leben gekommen sein. Tatsächlich scheint die Ankunft in Polumgla schon das Ende zu sein. Die verbliebenen Einwohner des Dorfes, dessen Männer an der Front kämpfen oder gefallen sind, - eine Handvoll Frauen, ein paar Alte, Kranke, Kinder - geben den zu Tode erschöpften Halberfrorenen nicht einmal ein schützendes Dach. Doch ihre frontale Feindseligkeit nimmt allmählich ab. Eines Tages geht Hans nach der Arbeit zu einer Witwe. Er bittet um »rabota« für »pokuschatch«. Und er hat Glück, der Hans im Glück. Die Witwe erschlägt ihn nicht mit der Axt, sondern geht mit ihm auf Bärenjagd: Essen für alle. - Es sind die Frauen, die ein Zusammenleben der Russen mit den Deutschen stiften. Eine Zweckgemeinschaft, die hinüberwächst in das alle Kluft Überwindende: in Menschlichkeit. Die Gefangenen erkennen ihre ideologische Verblendung, der Glaube an »Hitlers Wunderwaffe« wird zur staunenden Wahrnehmung eines Naturphänomens: der Himmel lässt Bänder des Nordlichts über ihnen zucken. Und im gemeinsamen Überlebenskampf werden die Männer selbst Grigorij nah. »Wenn sie nicht Krieg gemacht hätten, wären es goldene Jungs. Hitler war Schuld«, sagt der Funker des Baukommandos. »Solche wie Hitler tauchen immer wieder auf. Jedes Volk hat einen Hitler. Die Menschen wollen einen, der für sie denkt ...« Das ist einer der Sätze, eine der Szenen, in denen der Grundton des Films schwingt. Das Regiedebüt von Artjom Antonov (Jahrgang 1978) - auf mehreren Filmfestivals ausgezeichnet - ist ein Film der Generation, die den Großen Vaterländischen Krieg nicht miterlebt hat. Der Regisseur ist ein Enkel, selbst die meisten der Schauspieler. Vielleicht auch daher zeigen die Ausdrucksprägungen der Gesichter im Film keine Erfahrensspuren von Leid, Entbehrung, Verhärmung. Und wenn es am Ende für die Kriegsgefangenen, die »eigentlich friedlichen Burschen«, nur eins gibt: Liquidation, wird das nicht als Gerechtigkeit empfunden. Weder aus der Logik des Films heraus noch aus der Position des Zuschauers. Dem Regisseur hat der pathosfreie Film, vor allem das Finale, den Vorwurf des Antipatriotischen, Provokativen, Antirussischen eingetragen. Darin kommt der »Konflikt der Kriegsgeneration mit den Nachgeborenen, die Hitler-deutsche Verbrechen sicher nicht verdrängen, aber vielfältig instrumentalisierte Heroik und undifferenzierte Feindbilder über-winden wollen«, zum Ausdruck, bemerkte Hans-Joachim Schlegel nach den Debatten vorm Filmstart in Russland im Dezember 2005. Die jüngere Generation hat eine Erfahrung gemacht, die den Blick aus der Geschichte heraus hin zur Gegenwart lenkt: den Tschetschenien-Krieg. Welche Erkenntnis, welche Gefühle das damit verbundene Leid hervorrufen, beschrieb Alexander Kluge, in einem anderen Zusammenhang, mit den Worten: »An einem bestimmten Punkt der Grausamkeit angekommen, ist es schon gleich, wer sie begangen hat: Sie soll nur aufhören.« Das trifft gewiss auf das Credo auch des Regisseurs Antonov zu, der mit der russisch-deutschen Koproduktion »Polumgla« überdies ein Werk von hohem ästhetischen Niveau schuf. Bilder von gemäldegleicher Schönheit, die archaischen Metaphern gleichen. Es ist ein weiteres Werk junger russischer Filmemacher, die das Absurde jedes Krieges, s...

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