May versucht die Quadratur des Kreises
Fast täglich mehren sich die Warnungen der britischen Industrie vor dem Brexit
Mit einem »dritten Weg« will die britische Premierminister Theresa May am Freitag ihre Regierung bei einer Klausur auf dem Landsitz Chequers auf eine gemeinsame Position zur EU nach dem Brexit einschwören. Ersten Details zufolge will Großbritannien für Güter eigene Zölle einführen, während es für Güter, die für die Union bestimmt sind, die EU-Zölle erheben und an Brüssel weitergeben will. Damit soll der Fortbestand eines reibungslosen Warenaustausches gesichert werden.
May suchte für das sogenannte »facilitated customs arrangement« am Donnerstag noch Zustimmung von Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel in Berlin. Doch weiterhin überwiegt selbst in den eigenen Reihen die Skepsis. Aus dem Umfeld von Brexit-Minister David Davis wurde ein Bericht nicht kommentiert, wonach er den neuen Plan Mays für »undurchführbar« halte. Der Brexit-Fundamentalist Jacob Rees-Moog sprach von einer »wirklich dummen Politik«.
Er und andere führende Brexit-Befürworter, zu denen im Kabinett neben Davis vor allem Außenminister Boris Johnson und Umweltminister Michael Gove zählen, träumen davon, dass sich ihr Land nach dem Ausscheiden aus der EU zu einem »Global Britain« (May) aufschwingen werde. In der Realität ist die EU der weitaus größte Handelspartner der Briten: 45 Prozent aller Exporte gingen im Vorjahr in die EU, während 55 Prozent aller Importe aus der EU kamen. Seit dem Brexit-Votum und dem Kurseinbruch des Pfund ist die EU als Handelspartner wichtiger denn je - die britischen Exporte steigen.
Entsprechend werden die Warnungen der britischen Industrie von Tag zu Tag düsterer. Der größte Autohersteller Jaguar Land Rover erklärte am Donnerstag, ein »schlechter Brexit-Deal würde uns mehr als 1,2 Milliarden Pfund im Jahr kosten«. Entsprechend müsste das Unternehmen seine Investitionspläne »dramatisch anpassen«. Jaguar Land Rover beschäftigt in Großbritannien direkt 40 000 Mitarbeiter und erhält weitere 300 000 Arbeitsplätze. In den nächsten fünf Jahren will das Unternehmen 80 Milliarden Pfund (90 Milliarden Euro) investieren. Davon könnten vermehrt andere profitieren: Das Modell Discovery wird in Zukunft in der Slowakei gebaut, der Jaguar iPace wird in Graz gefertigt.
Kritik an Mays Vorschlag kam umgehend auch aus Brüssel. Der Plan sei eine »Einladung an Schmuggler«, hieß es, ihre Waren in Großbritannien an Land und dann insbesondere über Irland in den EU-Binnenmarkt zu bringen. Die britische Regierung hat sich zu einer Beibehaltung der offenen Grenze zwischen der Republik Irland und Nordirland und der »regulatorischen Anpassung« verpflichtet. Zudem, so hieß es weiter, beruhe der britische Plan auf einer Technologie zur Güterüberwachung, die vorerst nicht existiere. Der Vorschlag wird »ausgelacht werden«, zitierte die »Financial Times« einen »hochrangigen EU-Vertreter«.
Von britischer Seite hingegen heißt es, nur 4 Prozent der Güter, die nach Großbritannien kommen, würden derzeit in die EU weitergeliefert. Man sei zudem zuversichtlich, bis Ende der vereinbarten Übergangsphase im Dezember 2020 erste Einheiten der neuen Grenztechnologie einsetzen zu können und bis zur nächsten Wahl 2022 über ein flächendeckendes System zu verfügen. Der Chef der britischen Zollbehörde, Jon Thompson, warnte kürzlich von jährlichen Kosten für die Wirtschaft von 20 Milliarden Pfund.
Die angestrebte Regierungseinigung soll in den kommenden Tagen als Grundsatzpapier veröffentlicht werden. Weitere kritische Fragen wie die künftige Position zu (Finanz-) Dienstleistungen, der Einwanderung und dem Binnenmarkt werden weiter ausgeklammert. Damit könnte es May einmal mehr gelingen, den großen politischen Knall zu verhindern. Eine Entscheidung wird aber überfällig.
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