Werbung

Die Orbánisierung Europas

Merkel trifft Ungarns Premier. Seehofer will Südroute schließen

  • Aert van Riel
  • Lesedauer: 4 Min.

Noch ein gezwungenes Lächeln in die Kameras der Fotografen, dann hatte der ungarische Regierungschef Viktor Orbán den ersten Besuch seit mehr als vier Jahren bei Kanzlerin Angela Merkel überstanden. Kurz zuvor hatten die beiden Politiker am Donnerstagmittag vor allem ihre Differenzen in der Asylpolitik betont. Orbán will keine Geflüchteten bei sich im Land aufnehmen, die Deutschland nach den Dublin-Regeln der EU zurückschicken will, weil sie in Ungarn registriert wurden. Nach Einschätzung von Ungarn ist vor allem Griechenland für diese Menschen verantwortlich, die zumeist über die Balkanroute in die EU einreisen. »Darüber wird es einen langen Rechtsstreit geben«, prognostizierte Orbán.

Merkel war bemüht, sich von ihrem Gast, der nationalkonservative bis rechtsradikale Auffassungen vertritt und Geflüchtete einmal als »Invasoren« bezeichnet hatte, verbal abzugrenzen. »Europas Seele ist die Humanität«, säuselte die CDU-Chefin. Sie sprach sich für Flüchtlingskontingente und einen »Zuzug von Fachkräften« aus. Das sei der Unterschied zwischen der deutschen und der ungarischen Regierung.

Doch es gibt auch Gemeinsamkeiten. Orbán erinnerte daran, dass Ungarn an der Grenze zu Serbien und Kroatien einen Grenzzaun errichtet hat, damit kaum noch Menschen nach Deutschland weiterreisen können. Diese Maßnahme nannte Orbán einen »Beitrag zur Solidarität«.

Die LINKE-Innenpolitikerin Ulla Jelpke fand den Inhalt des Treffens von Merkel und Orbán skandalös. Sie bezeichnete die Verhandlungen über die Rücküberstellung von Geflüchteten als »eine menschenrechtliche Bankrotterklärung«. Der Masterplan von Bundesinnenminister Horst Seehofer, die auf dem EU-Gipfel beschlossene Internierung von Geflüchteten in Lagern innerhalb und außerhalb der EU, die Kriminalisierung von Seenotrettung und Fluchthilfe seien Ausdruck einer »Orbánisierung Europas«, kritisierte Jelpke.

Pro Asyl wies darauf hin, dass Helfer von Schutzsuchenden, die »vollkommen legitime Arbeit« leisten, in Ungarn mit Gefängnisstrafen bis zu einem Jahr bedroht werden.

Die fehlende Einigung mit Ungarn zeigt allerdings auch, wie schwer es für die Unionsparteien wird, ihren Kompromiss in der Asylpolitik praktisch umzusetzen. Dieser sieht die Errichtung von Transitzentren an der deutschen Grenze vor. Von dort sollen die Betroffenen möglichst schnell wieder zurückgeschickt werden, wenn sie in einem anderen Staat der EU registriert wurden und dort bereits einen Asylantrag gestellt haben.

Seehofer verwies am Donnerstag im Bundestag darauf, dass Merkel bisher nur von Griechenland und Spanien feste Zusagen für Rücknahmeabkommen erhalten habe. Die Kanzlerin will noch mit weiteren Staaten solche Vereinbarungen erreichen. Diese auszuhandeln, sei Sache der Innenminister, hatte Merkel nach dem EU-Gipfel Ende Juni gesagt.

CDU und CSU wollten registrierte Geflüchtete, die über EU-Länder eingereist sind, mit denen Deutschland keine Vereinbarung zur Rückführung getroffen hat, ursprünglich erst gar nicht in die Transitzentren lassen. Sie sollten direkt an der Grenze zurückgewiesen werden – also nach Österreich, mit dem dazu eine Vereinbarung erforderlich wäre.

Österreichs Regierung war darüber nicht begeistert. Deswegen sind diese Pläne nun offenbar vom Tisch. »Wir werden weder jetzt noch in der Zukunft Österreich für Flüchtlinge verantwortlich machen, für die es nicht zuständig ist«, sagte Seehofer am Donnerstag nach einem Treffen in Wien. Die Transitzentren sollen nur für Asylbewerber errichtet werden, die in Staaten mit EU-Außengrenze wie Griechenland und Italien einen Antrag gestellt haben. Sie sollen dorthin zurückgebracht werden.

Einig waren sich Seehofer und seine Gastgeber darin, die sogenannte Südroute für Schutzsuchende schließen zu wollen. Kommende Woche werde es vor einem Treffen der EU-Innenminister in Innsbruck eine Zusammenkunft der Ressortchefs aus Deutschland, Österreich und Italien geben, um »den Migrationsdruck über das Mittelmeer« zu reduzieren, sagte Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP), der mit der rechtsradikalen FPÖ regiert, nach dem Gespräch mit Seehofer.

Der CSU-Chef sprach davon, diese Südroute ganz zu schließen. Seehofer sagte, er wolle bei dem Treffen in Innsbruck über die Dinge beraten, die gemeinsam dafür getan werden könnten. Allerdings handle es sich um so komplexe Gespräche, dass am Ende nur die jeweiligen Regierungschefs die Kernpunkte der Vereinbarungen setzen können. Das bedeute, Angela Merkel werde hier mit den Regierungschefs von Griechenland und Italien Vereinbarungen treffen müssen.

Vermutlich wird die Bundesregierung noch weitere Grenzen in den Blick nehmen. Die »Rheinische Post« berichtete unter Berufung auf Angaben der Bundespolizei, dass in den ersten fünf Monaten dieses Jahres 73 Prozent der insgesamt 18 024 »illegalen Grenzübertritte« nicht aus Österreich, sondern aus Staaten wie der Schweiz oder Tschechien, erfolgten.
Auch innenpolitisch ist der Konflikt um die Asylpolitik noch nicht entschieden. Die Spitzen von Union und SPD berieten am Donnerstagabend bei einem Treffen des Koalitionsschusses über die Errichtung der Transitzentren. Die Union will, dass hier innerhalb von 48 Stunden über die Fälle entschieden wird. Dagegen sagte Justizministerin Katarina Barley (SPD) im Bayerischen Rundfunk, dass rechtsstaatliche Grundsätze eingehalten werden müssten.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.